Nachlese: Frøydis Lutnæs-Mast, Gastspiel Eurythmie Berlin in Hannover: "... dem Grau der Nacht enttaucht ...", Zauber- und Segenssprüche
Am Sonntag 7.Juni war das Ensemble Eurythmie Berlin in Hannover zu Gast. Dazu hatte ich in diesem Blog einen Vorbericht geschrieben - der sich aber hauptsächlich auf den von Paul Klee entliehenen Titel bezog, denn ich hatte kein Material über die Aufführung selbst bekommen. Hätte ich nur das Programm vorher gehabt, das am Abend selbst erworben werden konnte und jetzt vor mir liegt ... Dass der Text und das Bild von Paul Klee eine tiefere Bedeutung in der Aufführung hatte, konnte ich allerdings nicht feststellen; vielleicht war es so subtil, dass ich es nicht bemerken konnte (z.B. bei der Wahl der Farben und Beleuchtung).
Verzaubert - entrückt - gewandelt: Verzaubert hat mich der Abend, erschüttert auch unter den archaischen Worten, gelegentlich erheitert, dann wieder fühlte ich mich auf feinsinnige Weise auf-gehoben. Musik, "Tanz", Sprache stimmten in einer Weise zusammen, die ich nur bewundern kann und die bei mir einen Zusammenklang bewirkte, der den ganzen Menschen ansprach. Mit welchem Tiefgang und Anspruch das Programm entwickelt wurde, das kann man auch den Gedanken im Programmheft entnehmen - nach der Lektüre müsste man eigentlich die Aufführung ein zweites und drittes Mal sehen. Vor allem bei der Musik konnte ich bei diesem ersten Hören nicht erfassen, was alles dahintersteckt, obwohl Frau Lutnæs-Mast in ihrer Vorrede ein wenig dazu erläutert hat. Warum die Bewegungen jeweils so und nicht anders gestaltet sind, kann ich in der Regel nicht beurteilen, weil ich dazu nicht fach-kompetent bin (nun gut, einzelne Buchstaben kann ich erkennen, aber damit habe ich noch lange nicht das Ganze). Um so schöner, wenn bei einigen Szenen ein Verständnis unmittelbar aufleuchtet ... Die Texte waren hervorragend und klar verständlich gesprochen, vor allem auch die "fremden" altertümlichen Laute (altnorwegisch, altkeltisch, althochdeutsch) einfühlsam vorgetragen. Die Musik wurde exzellent und mit hoher Präzision gespielt (Kompositionen von Lothar Reubke und Heiner Ruland).
"Inspiriert wurde das Programm", schreibt Ruth Barkhoff-Keil im Programmheft, "durch die zu allen Lebensanlässen gesprochenen Segen und/oder Abwehrbeschwörungen der iro-schottischen Kelten. Dazu bewegten uns Fragen: Was ist weiße, graue, schwarze Magie? Kann man, wollen wir bis an die Schwelle künstlerisch gehen? Was passiert dort? Und anders noch: Was ist Wandlung von innen aus eigenem Wollen und wie ist es, Verzauberung erleiden zu müssen ...? Wir hatten die Gewissheit, dass eurythmisch umgesetzte Sprache schon Wandlung, schon Ent- und Verzauberung ist, sein sollte. Dazu traten Fragen nach dem Wesenhaften auf: Mit welchen Wesen verbündet man sich zu welchem Zweck? Welche Wesen kann man nur hereinbitten, durchs Gebet? Drei Arten geistig-wesenhaften Wirkens begegnen wir in unserem Programm, drei Stufen des Reiferwerdens im Umgang mit wesenhaften Mächten ...
So wechselt das Programm zwischen den Polen von Hingabe und Konzentration. Die Resultante aus beiden entlässt uns nicht befriedigt, aber gestärkt, wir haben die 'Seelenmuskeln' bewegt."
Es beginnt mit einem ersten Teil aus dem Trio I von Lothar Reubke, Titel "Drei-Vier-Fünf". Die Violine spielt im 3/4-, die Viola im 4/4- und der Kontrabass im 5/4-Takt. "Klassische Formkräfte sind nicht mehr vorhanden! Die Töne selbst werden eigenständig und zeigen sich in ihrer Individualität. Die Zahlen selbst und ihre Verhältnisse werden offenbar. Eurythmische Formen, wie 3-, 4-, 12-Ecke oder 5- und 7-Sterne werden teils gleichzeitig 'gelaufen' - dazu polar kosmisch kreisende Bewegungen am Anfang und Ende der Komposition. In der Zahlenanordnung sind trotz unterschiedlicher Zeitmaße die Stimmen doch zusammen ..." (aus dem Text von Frøydis Lutnæs-Mast im Programmheft). Dann das "Proœmion" von Goethe: "Im Namen dessen, der sich selbst erschuf ... In seinem Namen, der den Glauben schafft, Vertrauen, Liebe, Tätigkeit und Kraft ...Du zählst nicht mehr, berechnest keine Zeit, und jeder Schritt ist Unermesslichkeit."
Nach einem weiteren Teil aus Lothar Reubkes Trio I folgen rätselhafte Verse von Friedrich Hölderlin: Gebet für die Unheilbaren: "Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen. Anders bekehrest du sie nie, wie verständig sie sind. Eile, verderbe sie ganz, und führ' ans furchtbare Nichts sie ..." Der Sprung in die Moderne: "Zuerst schmerzblind, dann schmerzsehend" (Peter Handke) - und ein Intermezzo für Bratsche von Heiner Ruhland.
Sehr beeindruckt hat mich das Musikstück "Erde" für Kontrabass solo von einem unbekannten Komponisten, mit dem in zwei Teilen die nächsten beiden alten Texte eingerahmt wurden: der keltische Zauberspruch Love Charme (im Original vorgetragen, Übersetzung im Programmheft) und die Nr. 1 der Merseburger Zaubersprüche. "Eiris sâzun idisi, sâzun hera duoder. Suma hapt heptidun, suma heri lezidum ... - Einst setzten sich Frauen nieder, setzten sich nieder hier und dort. Einige banden Fesseln, ... einige nestelten an den Fesseln, entspring Gefangener, den Banden entschlüpf ...". Und: "Ein bisschen Glut im Saum deines Rockes, eine Handvoll Seetang in einem Holzscheffel ... Verbrenn das aus einem Feuer aus Zweigen und mache es alles zu Asche, streu sie ein in des Geliebten Brust gegen den stechenden Nordwind. Umschreite den Hügel der Fortpflanzung, die Bahn mit den fünf Biegungen, und ich schwöre dir, ich steh dir ein, dass dieser Mann dich nie verlassen wird." Dazugesellt wieder ein moderner Text von Peter Handke: "Er hat nicht allen Versuchungen widerstanden; sich nicht immer enthalten. Daraus kam natürlich Schuld, aber auch das Sichtbarwerden eines Ziels."
Ein Bratschen-Solo "Das Viergetier" von Heiner Ruhland. Und:
fand er Gemeinschaft
mit allem Wachstum
Ein eurythmisches Solo (Frøydis Lutnæs-Mast) beginnt mit einer ganz einfachen Geste: Die Hände bilden eine Knospenform und öffnen sich langsam:
Das zweite Trio für Violine, Viola und Kontrabass von Lothar Reubke schließt den wunderbaren und innerlich ertragreichen Abend ab.
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