Frank Wilbrandt, Gut Adolphshof: „Leben und Werk des Malers Edvard Munch im Lichte der Anthroposophie – Ein Beitrag zum Kunstimpuls am Beginn des Michael-Zeitalters“ (Vortrag mit Lichtbildern), eine Nachlese
Auf den Vortrag über Edvard Munch, der am 25. Sept. 2009 in Hannover stattfand, hatte ich mich schon lange gefreut. Bei meinen Reisen nach Norwegen, der Heimat meiner Mutter, und in mehreren Ausstellungen in Deutschland hatte ich schon viele Bilder im Original gesehen. Über die Ausstellung in Emden mit dem Schwerpunkt auf dem Spätwerk hatte ich sogar einen Artikel geschrieben ("Die Drei" 2005-1). Jetzt war ich gespannt auf die Betrachtung "im Lichte der Anthroposophie". In dieser "Nachlese" gebe ich ein paar Grundgedanken aus dem Vortrag wieder - Frank Wilbrandt hat mir freundlicherweise seine Redevorlage zur Verfügung gestellt. Teilweise zeige ich hier andere Bildbeispiele.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende - zu Beginn des Michael-Zeitalters - wurden viele bedeutende Künstler geboren. Der Norweger Edvard Munch gehört dazu, er wurde am 12. Dezember 1863 in Løten auf einem Hof geboren, der Engelhaug heißt: Engelshügel. Michael hat eine Zeit der radikalen Erneuerung eingeläutet - nicht nur in Religion und Wissenschaft, sondern besonders auch in der Kunst. "Niemals vielleicht war das Sehnen nach dem geistigen Leben, nach einer unsichtbaren Welt, das die materialistischen Theorien der Gelehrten und die Meinung der Welt zurückgedrängt hatten, ernster und wirklicher“ - sagt Eduard Schuré in seinem Buch "Die großen Eingeweihten". Zugleich werden die Gegenkräfte der Geister der Finsternis aktiv (s. GA 177).
Michael befreite den Menschen von zu engen Familienbanden. Diesen Freiraum wollten die Widersachermächte für sich beanspruchen - doch Michael konnte verhindern, dass die Fortpflanzungskräfte - Mondkräfte - in deren Gewalt kamen, sie verblieben beim Erzengel Gabriel. Die Geister der Finsternis aber lassen nicht locker, sie wollen Chaos und rumoren in den Leibern der Menschen. Für beides muss Edvard Munch ein feines Empfinden gehabt haben: für die Mondkräfte - die "Liebe auf irdischem Felde", wie Steiner es einmal genannt hat -, aber auch für die rumorenden Widersacher in den Leibern der Menschen. In frühen Werken, wie in diesem Bild von 1895, kommt immer wieder die "Mondsäule" vor. Munch war somnambul - "mondsüchtig"* -, seine Freunde wussten das. "Das Tor zum Unsichtbaren ist ... offen", so schreibt darüber Eduard Schuré, "in den höheren Phänomenen des Somnambulismus öffnet sich diese Welt ganz". (*Die Bezeichnungen "Mondsucht" oder "Schlafwandeln" sind zwar üblich, treffen aber nicht den Kern - gemeint ist hier und bei Schuré eine Form der Hellsichtigkeit in altem Sinne. Das Tor zum Unsichtbaren öffnet sich.)
Edvard Munchs bekanntestes Bild dürfte "Der Schrei" sein, es dient geradezu als Paradebeispiel für den Expressionismus (es gibt verschiedene Versionen, diese ist von 1893), kein "schönes" Bild nach üblichem Empfinden. Das geistige Erlebnis, das dem vorausging, beschreibt Munch so: „Ich ging den Weg entlang mit zwei Freunden, die Sonne ging unter. Der Himmel wurde plötzlich blutrot. Ich fühlte einen Hauch von Wehmut. Ich stand still, lehnte mich todmüde an das Geländer. Sah hinaus über die flammenden Wolken - wie Blut und Schwert. Meine Freunde gingen weiter, ich stand da, bebend vor Angst und ich fühlte wie ein großer unendlicher Schrei durch die Natur ging." Verblüffend ähnlich spricht Steiner von den "Schreie(n) der Menschheit in einer weiteren Weltenumgebung nach geistigen Wahrheiten" (GA 148). Es ist also nicht der eigene Schrei, den Munch darstellt, sondern der Schrei, der ihm aus der Natur entgegenkommt.
Rudolf Steiner hat sich bekanntlich in Worten und Taten sehr stark für die Erneuerung der Kunst eingesetzt. „Ja, die bloße Nachahmung der Natur im absoluten Sinne kann niemals Kunst sein, weil, wenn jemand noch so stark nachahmt, was er äußerlich in der Natur sieht, er doch die Natur nie erreichen wird. (...) Etwas ganz anderes ist es, wenn in expressionistischer Weise verkörpert werden will, was der Mensch über das bloße Naturgemäße hinaus erlebt...", hat er gesagt (GA 297). Edvard Munch - den Steiner, soweit feststellbar, nicht ausdrücklich nennt* - war gewiss einer der wichtigsten Wegbereiter der neuen Kunst zu Beginn des Michaelzeitalters. "Edvard Munch (so Wilbrandt) "ist der Maler des modernen Seelenlebens. Er wollte für die Menschen seiner Zeit etwas im Menschen Verborgenes bildlich darstellen." Seine Bilder wirkten skandalös in der bürgerlichen Gesellschaft, der er einen Spiegel vorhielt. Er malte keine Heiligenbilder, sondern Alltagsmenschen und -szenen (nur in wenigen Bildern sind keine Menschen enthalten).
Gedanken von Diesseits und Jenseits, ja sogar Reinkarnation und Karma, waren Munch vertraut (er hielt sich für eine Wiedergeburt von Olav Trygvasson) - das kommt in vielen Bildern, wenn auch subtil, zum Ausdruck. Mädchen auf einer Brücke hat er in verschiedenen Lebensphasen immer wieder dargestellt - manchmal muss man den Eindruck haben, dass er die Gjallarbrücke meint - die zwischen Leben und Tod nach dem "Traumlied des Olav Åsteson" (das bis heute noch stark im norwegischen Volke lebt). Ein Beispiel ist das folgende Bild von 1905, darauf ein viertes Mädchen vorne (sonst sind es meist nur drei) mit einem merkwürdig leeren Gesicht. Ist sie aus einer anderen Welt zurückgekommen? Den frühen Tod seiner Schwester Sophie hat Munch nie ganz verwunden, aber vielfach malerisch bearbeitet (s. "Das kranke Kind", das ich hier nicht zeigen kann).
Das Jahr 1909 wird zu einem radikalen Wendepunkt im Leben Edvard Munchs.Die Krise brach im September des Jahres vorher aus, genau am Michaelstag, dem 29. September 1908, bat er einen Freund, ihn in ein Sanatorium in Kopenhagen zu bringen, wo er sieben Monate blieb und als geheilt entlassen wurde. Als völlig anderer Mensch kehrte er in seine norwegische Heimat zurück: Er raucht nicht mehr, ernährt sich vegetarisch, trinkt nur noch selten bei besonderen Anlässen ein wenig Champagner. Er lebt zunächst auf Kragerø, dann oberhalb von Oslo einsam in der Natur auf dem erworbenen Besitz Ekely. 35 Jahre sollten ihm noch für sein sog. Spätwerk bleiben, das bisher zu wenig beachtet wurde (2004-05 gab es in Emden eine Aufsehen erregende Ausstellung von Bildern aus der zweiten Schaffensphase; dieser Hinweis kam in dem Vortrag nicht ausdrücklich vor). Zitat aus Wikipedia:
1916 erwarb Munch den Besitz Ekely bei Christiania (Oslo). Landschaft, Menschen im Einklang mit der Natur, pflügende Pferde dies sind Motive, die jetzt in klaren, kräftigen Farben geschildert werden. Eine frische, spontane Pinselführung vermittelt den Eindruck einer sinnlichen Huldigung an Sonne, Luft und Erde.
Auf Ekely lebte Munch in zunehmend selbst gewählter Isolation, spartanisch, nur von seinen Bildern umgeben. Er war überaus produktiv. Obwohl er sich nur widerwillig von „seinen Kindern“ trennte, wurden die Bilder zu einer Reihe von Ausstellungen im In- und Ausland ausgeliehen.
Warum ausgerechnet das Jahr 1909? Warum diese radikale Wendung auch in den Werken? Diesen Fragen versucht Frank Wilbrandt nachzugehen (was sich hier nur verkürzt wiedergeben lässt). Den Abschnitt überschreibt er: Von der Finsternis ins Licht. Das Jahr 1909 nennt Rudolf Steiner auch für den Beginn der Wiederkunft des Christus im Ätherischen (GA 175). Die Farben werden heller und klarer, die Motive weniger pessimistisch. "Und waren sie bis dahin von Mondenkräften beeinflusst, so konnte er jetzt eine Sonne malen, von welcher der Philosoph und Munch-Kenner Gösta Svenæus sagte: Sie komme ganz aus seinem eigenen Genie heraus."
Abschließend ein paar zusammenfassende Sätze Wilbrandts:
"Edvard Munchs Leben war gekennzeichnet von Krankheit, Nahtod- und Todeserlebnissen. Sein Künstlertum war geprägt von Verachtung und Ablehnung, später von Anerkennung und Berühmtheit, was ihn nur umso mehr in eine selbst gewählte Einsamkeit führte. Er nahm sein schwieriges Leben am Abgrund bewusst auf sich und malte einerseits, um seine seelisch-geistigen Erlebnisse ins Bewusstsein zu heben, andererseits um den anderen Menschen zu helfen, einen Weg zu gehen, der nicht mit dem (Seelen-) Tod endet. Das lässt sich im erlebenden Anschauen seiner Bilder nachvollziehen, wenn man seinen Weg von Anfang an - über die große Krise hinweg – bis zu seinem Lebensende nachvollzieht. Mancher mag die Kunst Edvard Munchs als überholt empfinden. Die Aussage seiner Werke scheint jedoch nicht an Aktualität verloren zu haben. (Man lese nur im <Goetheanum> Nr. 28 v. 10. Juli 2009 den Artikel von Hans-Christian Zehnter über <Horizontalisierung>, wie wir in Gefahr sind, die Aufrechte zu verlieren.) Noch heute üben Edvard Munchs Bilder eine besondere Faszination auf die Besucher seiner Ausstellungen aus. Bei aller handwerklichen Perfektion, muss man doch sagen, dass viele Bilder nicht „schön“ sind in dem Sinne, dass man sie sich gern über das Sofa hängt. Munch wusste das und wollte ausdrücklich keine dekorative Kunst malen. Aber sie lässt den Betrachter nicht unbeeindruckt und kann ihn zur Erkenntnis der Widersachermächte und damit auch zur Selbsterkenntnis führen. Hilft nicht Edvard Munch damit den Menschen im Erdenleben und darüber hinaus, denn im Kamaloka muss die Seele nicht zwangsläufig ihre Verfehlungen bereuen. Ist sie nachtodlich nicht bereit, ihre Schuld anzuerkennen und wehrt sich gegen echte Selbsterkenntnis, so muss sich der zu diesem Menschen gehörende Engel aus dessen Führung durch den Kosmos wenigstens zeitweise zurückziehen, was mit unerträglichen Leiden für diese Seele verbunden ist (Prokofieff, "Die okkulte Bedeutung des Verzeihens", S. 116 ff.). Letztendlich muss sie sich zum Diener ahrimanischer Dämonen machen und in deren Auftrag Krankheit und Unglück über die Menschheit bringen. "
Edvard Munch hat auch immer wieder Selbstporträts geschaffen; deshalb zeige ich hier abschließend eines, das vier Jahre vor seinem Tod entstand (dieses hat der Vortragende nicht gezeigt). Der Maler starb am 23. Januar 1944.
© Text im Wesentlichen Frank Wilbrandt, Gut Adolphshof, Hämeler Wald unweit Hannovers; Überleitungen, Auswahl, Kommentare Helge Mücke, Hannover; die Bilder sind als Bildzitate gekennzeichnet, sie sind natürlich nicht rechtefrei, in der Reihenfolge von oben nach unten: "Mondlicht", 1895; "Der Schrei", 1893; "Vier Mädchen auf der Brücke", 1905; "Die Sonne", 1912; "Selbstporträt am Fenster", 1940. *Nur an einer Stelle ist der Name Munch ausdrücklich erwähnt, es geht um eine "an Leukämie erkrankte(n) Verwandte(n) des norwegischen Malers Munch", für die Steiner bestimmte Mittel empfohlen hatte - Bericht Oskar Schmiedels im Anschluss an GA 291a "Farbenerkenntnis".
Vielen Dank für die gelungene kompetente Zusammenfassung.
Kommentiert von: Frank Wilbrandt | 08. November 2009 um 15:00 Uhr