Im vorigen Jahr hatte die Welturaufführung im MeRz-Theater in Hannover stattgefunden; die Aufführung hatte mich sehr beeindruckt. Allerdings bleibt vom Inhalt manches unverständlich. An diesem Wochenende gibt es die Gelegenheit, das Stück erneut oder erstmals zu besuchen. Aufführungen am 22. Januar 20 Uhr und am 24. Januar 17 Uhr im Rudolf-Steiner-Haus, Brehmstr. 10.
Nelly Sachs (1891-1970) hat selber zu dem 1961 zuerst veröffentlichten Stück gesagt: "Ein Spiel, das nach einer der vielen Sintfluten seinen
Beginn nimmt ... unsere Zeit ist Sieger- und Besiegten-Zeit - in neuer
Form des Erlebens. Der ewige Kreislauf vom Schöpfungsaugenblick an in
Natur und Menschen aus- und eingeatmet. Aus dem Atem wurde der
Buchstabe geboren, und wieder entsteht neue Schöpfung aus dem Wort."
Weiterhin: "Das Böhmewort:
›Nichts ist die Sucht nach Etwas‹
weiß um Auferstehung nach jedem Tod –
Unverbrauchbarkeit der Schöpfungskraft.“
So beginnt Nelly Sachs ihren Kommentar zu ihrer szenischen Dichtung
„Beryll sieht in der Nacht“.
Nach ihren eigenen Worten soll in der Darstellung der
Versuch gemacht werden,
„das Wort mit den Gesten des ganzen Leibes ausatmen, Farbe und Licht geschwisterhaft mitwirken zu lassen.“
Will man dieser Forderung der Dichterin gerecht werden,
so bietet sich der Versuch an, Sprechtheater mit Bewegungstheater zu vermischen.
Auf diese Weise lassen sich konkrete sprechende Individualitäten von der Darstellung
geistiger Kräfte und Wesen unterscheiden.
Regieanweisungen und Bühnenbildvorstellungen der Autorin stellen hohe Anforderungen.
Ihre Forderungen scheinen dem zu folgen, was ihr geistiges Auge schaut:
eine Arche, die sich öffnet und schließt, die wie eine Lunge atmet -
dazwischen tauchen Fernsehbilder auf.
Was zur Zeit der Entstehung des Stückes (1961) kaum möglich gewesen wäre,
macht moderne Computertechnik inzwischen möglich.
So wurde für diese Inszenierung, die
-von Schüleraufführungen abgesehen-
im Theaterleben offensichtlich eine Welturaufführung darstellt,
eine filmische Einspielung als Kulisse hinter den live gespielten Szenen gewählt.
Versuch einer Deutung:
Diese szenische Dichtung der Nelly Sachs kann als eine poetisch-mystische Umdeutung des 8. Kapitels der Genesis angesehen werden. Es geht in diesem Spiel vor allem um die Rettung des Alphabets, das in der jüdischen Mystik eine große Rolle spielt. Buchstaben sind nicht Zeichen für etwas, sondern verkörpern jeder für sich eigene Qualitäten. Das A ist nicht nur ein abstraktes Symbol, sondern heißt soviel wie „Anfang“ oder „der Mensch am Anfang“, so wie das „B (betha)“ der Mensch in seinem Haus ist.

Die vorstehenden Erläuterungen stellt das MeRz-Theater zur Verfügung (Hervorhebungen von mir).
In seiner Auswahl der Gedichte der Nelly Sachs schreibt
Hans Magnus Enzensberger, sie sei „die letzte Dichterin
des Judentums in deutscher Sprache“ und ihr Werk sei „ohne
diese königliche Herkunft nirgends zu
begreifen“[2].
Das gilt insbesondere für die szenische Dichtung, Beryll
sieht in der Nacht oder Das verlorene und gerettete
Alphabet
(1961), die
an den Sohar-Zyklus (an die in den fünfziger Jahren
verfassten fünf Gedichte über das von Scholem übersetzte
Schöpfungskapitel) anknüpft und ihn abschließt und vollendet. Ohne den
Umweg über die jüdische Mystik und den Sohar bleibt der
Text unzugänglich und unverständlich. In ihrer Anmerkung
weist die Dichterin selbst auf ihre Quellen hin, auf das
Böhmewort – „Nichts ist die Sucht nach Etwas“ –, dessen
volle Bedeutung ihr vielleicht erst durch die Entdeckung
des Sohar-Buches enthüllt wurde, und auf das Buch
des Strahlens selbst: „Dies ist im Buch des Glanzes – dem
Buch Sohar, dem Buch jüdischer Mystik, darin sich
die Mystik der ganzen Welt trifft“. Der Stil selbst ist
nur mit demjenigen des Sohar vergleichbar.
Als Ersatz von Gott und Usurpator tritt
er - der Kommentator - auch als falscher Prophet auf, der über das Desaster
berichtet:
"Ihr habt euer Alphabet
erschlagen –
/ Eure Buchstaben vergessen –
/ Sintflutertrunken ist euer
Wort" und nun für sich die Allmacht beansprucht: „Also gehört
eure Welt uns“. Nachdem die Henker die Sprache entartet
und durch die Vernichtung des jüdischen Volkes, des
Trägers des göttlichen Wortes, Gott selbst zum Schweigen
gebracht haben, will der Fernsehkommentator der einzige
Besitzer des Wortes sein [„Die Worte gehören uns allein“]
und er wundert und ärgert sich, wenn er Stimmen in der
Arche vernimmt, obwohl er selbst die Archebewohner aus
ihrem Schlaf gerissen hat. Beim Anbruch einer neuen Zeit
und Welt besteht also schon die Gefahr, bzw. die
Versuchung der Abgötterei.
Als alle wieder im Schlaf
versinken, antwortet doch eine Stimme auf Beryll, bevor
dieser in der „Leere“ (mit dem Nichts nicht zu
verwechseln) verschwindet: „Vielleicht machen wir Morgen
daraus“.
In diesem „vielleicht“ steckt Ungewissheit, aber auch
Hoffnung, und drückt sich Nelly Sachs’ Ablehnung vom
Endgültigen aus: „Hier ist kein ‚Fertigwerden’. Die Steine
der Unruhe pflastern den unendlichen Weg“ („Briefe aus der
Nacht“, 11). Auf diesem Weg wandern der Jude und der
Dichter, jene ‚Ruhestörer’, die die Menschen vor ihre
Verantwortung stellen und daran erinnern, dass Welt und
Gott ihrer bedarf. Man höre die Lehre von Rabbi Buman in
den Erzählungen der Chassidim von Buber:
[…] auch jetzt noch ist die Welt in dem Stande der
Schöpfung […] Tag um Tag, Nu um Nu bedarf sie der
Erneuerung der Urwort-Kräfte, durch die sie erschaffen
wurde, und würde die Kraft dieser Kräfte für einen
Angenblick von ihr scheiden, sie verfiele wieder zu Irrsal
und Wirrsal.
[S. 758]
Die Urwort-Kräfte zu erneuern, oder mit Nelly Sachs zu
sprechen „die Schätze des Atems“ zu heben, ist Auftrag des
Dichters. Allein kann er aber nicht einen Morgen und einen
Abend machen.
Jene Kommentare stammen von Andrée Lerousseau (Lille) .
"Das Motiv vom 'verlorenefn] und wieder gerettete[n] Alphabet" in thematischer Anlehnung an die kabbalistische Buchstabenmystik ist in der szenischen Dichtung Beryll sieht in der Nacht konsequenter ausgeführt. Ebenso wie die Gestalt des stummen Tänzers David aus der mimischen Szene Der magische Tänzer soll auch der blinde Beryll als einer der 36 Gerechten die im zerschlagenen Alphabet untergegangene Welt durch 'Zeichen und Gebärden" erretten. Sachs kreiert mit Beryll nicht nur eine moderne Seherfigur, sondern auch eine Symbiose von Wort-Mimus-Wort, die sie als eine Art 'Kulttheater" denkt, 'wo die Künste sich verbinden sollen, ohne daß die eine die andere auslöscht' ." Aus: http://www.litde.com
(C) Textzusammenstellung Dr. Helge Mücke, Hannover. Die Bilder wurden Wikimedia Commons entnommen (wo keine genaueren Urheberangaben zu finden sind). Sie zeigen Nelly Sachs 1910 und 1966.
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