Ein Mensch betritt
ein Museum und findet Obst und Gemüse vor, ausgelegt auf einer
durchsichtigen Fläche in spiralförmiger Anordnung. Er möchte am liebsten
zugreifen und schmecken, aber er ist ja in einem Museum. Einem Schild kann er entnehmen, dass es sich um biologisch-dynamisches Obst
und Gemüse handelt.
Oder: Ein Mensch betritt ein Museum und stößt auf
ein großes vieleckiges, intensiv violettes Gebilde, in das er
hineingehen kann. Er geht hinein und sieht anders.
Zwei Zugänge zu
der faszinierenden zweifachen Ausstellung, die seit dem 13. Mai in
Wolfsburg zu sehen ist: Rudolf Steiner, Die Alchemie des Alltags, und
Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart. "Noch nie wurde der 'Kosmos
Steiner' so umfangreich dargestellt wie durch die beiden Ausstellungen
...", sagt der Pressetext.
Zwei Zugänge zu der Doppelausstellung, die nur beispielhaft sind, aber doch, denke ich, Wesentliches aussagen. Der eine Weg ist die Öffnung nach außen, in die Umwelt hinein, aber doch spiralförmig zu sich selbst zurückführend. Der andere Weg führt unmittelbar in einen Innenraum, ein Inneres mit starken Empfindungen, das Ergebnis eines intensiven Denkvorgangs ist. Zwei mögliche Wege zur Anthroposophie und zum Gesamtwerk Rudolf Steiners. Auf bewundernswerte Weise ist es den Ausstellungsmachern gelungen, die verschiedenen Möglichkeiten offen lassend zu erschließen, mit denen man sich Steiners Werk nähern kann.
Ich fahre in loser Folge mit einigen weiteren - persönlich gefärbten - Eindrücken fort.Innen- und Außenraum: Was geschieht, wenn man den Innenraum nach außen stülpt? So, wie in den Würfelmodellen von Paul Schatz? Was geschähe, wenn man den Innenraum des Menschen nach außen stülpen würde? "Wenn wir hier den Menschen so umstülpen könnten, dass wir sein Inneres nach außen wenden würden, dass also zum Beispiel das Innere, das Herz, dann die Oberfläche des Menschen wäre, ... wenn man ihn umstülpen könnte, im Herzen innerlich anfassen und ihn so wie einen Handschuh umstülpen,dann bliebe er nicht ein solcher Mensch, wie er hier ist, dann vergrößerte er sich zu einem Universum" (Rudolf Steiner in GA 214 "Das Geheimnis der Trinität"). Den größten Raum in dem großartigen Gestaltungsraum dieses modernen Museums nimmt die Installation von Katharina Grosse (geb. 1961) ein. Die hoch, aber schräg aufragende (auf einer Ecke stehende), flache Raumschale mit einem Innen- und gegenläufigen Außenbogen wirkt mit ihren aufgesprühten Farben farbenfroh. Das vom Herzbereich aus umgestülpte Innere des Menschen reicht bis weit in den Makrokosmos hinaus.
Zeitliche Bewegung und Dauer, organischer Wandel: Von einem alten Zedernstamm legt Guiseppe Penone (geb. 1947) den „jungen Stamm“ im Inneren frei – die „Baumtür“ (1993-95) gibt uns Einblick in das früher Entstandene; was innen ist, ist am jüngsten – so macht es der Künstler uns bewusst -, das Junge wird vom Alten ummantelt und geschützt; die Zeitenfolge ist genau umgekehrt, wie man es naiverweise annimmt. Penone findet hier „die Form wie ein Archäologe der Natur, der ihre inneren Kräfte freilegt“.*
Erfahrungen mit der Natur, Erfahrbarkeit der Zeitgestalt im Reich des Lebendigen, zwischen Flüchtigkeit und Dauer, vermitteln auch andere Werke Penones, von denen einige weitere in der Ausstellung zu besichtigen sind: Sie gehören für mich zu den Höhepunkten. Mit der Terrakotta-Skulptur Atemhauch 7 (1978) hat Penone der Flüchtigkeit (seines Atems) Dauer zu verleihen versucht. In dem ursprünglich weichen Werkstoff hat der Künstler nicht nur Beine, Oberkörper, Unterkiefer abgedrückt, sondern auch noch seinen Atem eingeblasen. „Die Inspiration, d.h. Einhauchung des Künstlers wird hier zum plastischen Objekt. Dem entspricht eine Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner, auf der er das Innen und Außen des menschlichen Körpers thematisiert und nach dessen eigentlicher Grenze fragt.“* Was kommt dabei heraus, wenn man kleine Teile aus der Natur auf einer großen Leinwandfläche „ausstreut“? Welche Muster entstehen, welche Textur? In welchem Verhältnis stehen dann Zufall und Steuerung vom Bewusstsein aus? Ist das dann noch Kunst (Ergebnis künstlerischen Wirkens)? Solche Fragen kann man sich stellen, wenn man sich ein anderes Werk Penones anschaut, das mit Akaziendornen gestaltet ist (ähnlich, wie Anselm Kiefer mit Sonnenblumenkernen „gemalt“ hat). Bei genauerem Hinsehen kann man Strukturen eines Handabdrucks oder eines Gesichtes erkennen – aber interpretieren wir das als Betrachter nur hinein? Strukturen, die Auge und Hirn des Betrachters erst erschaffen? Ein weiteres Werk Penones kann man sich direkt ertasten – mit nackten Füßen. „Haut aus Marmor besteht aus 5 Marmorplatten. Auf der Oberseite sind die Räume zwischen der Marmoräderung ausgefräst, so dass die Äderung erhaben ist. Diese Platten werden im Japangarten des Kunstmuseums Wolfsburg als Steg über dem Kies gelegt. So wird ein Zugang geschaffen zu einem Bereich, der in einem traditionellen Zen-Garten nicht betreten werden darf“.*
An einigen Stellen kreuzen sich die beiden Ausstellungen, z.B. bei Eliasson und Federle. Der Isländer Olafur Eliasson (geb. 1967) gehört zu den interessantesten Gegenwartskünstlern und ist mit mehreren Objekten voller Licht- und Spiegelelemente vertreten. Seine Installationen gleichen mehr naturwissenschaftlichen Anordnungen als Kunst. In seinem Berliner Atelier arbeiten teilweise rund 40 Mitarbeiter mit Computertechnik an der Umsetzung seiner Modelle – das sieht mehr nach einem Forschungslabor aus als nach einer Künstlerwerkstatt. Er bringt wieder zusammen, was nach Goethe in der materialistischen Epoche getrennt worden war: Kunst und Wissenschaft. Ganz entsprechend Steiners ganzheitlicher Sicht – der 1911 Farbkammern entwarf, in denen der Mensch mit seinen Sinnen in ein Lichtbad eintauchen sollte (s. erstes Bild oben). „Die Lichtobjekte und die Wand aus spiegelnden Ziegelelementen hier in der Ausstellung“, heißt es in einem Begleittext zu Eliasson, "nehmen stimmungsvoll Bezug auf den japanischen Zen-Garten des Kunstmuseums Wolfsburg mit dem atmosphärischen Spiel des Lichtes auf den rauen Betonmauern und der grünen Wand aus dichtem Bambus“ (was auf dem folgenden Bild aber nicht erkennbar ist).
„Wie komme ich über die Begrenztheit meines Körpers hinaus, ohne ihn zu verlassen?“ - das ist eine der Fragen, mit denen Tony Cragg (geb. 1949) umgeht, dessen Skulpturen in der Ausstellung einen deutlichen Akzent setzen. (Durch Umstülpung, würde Steiner wahrscheinlich antworten.) Man kann um die Rote Figur herumgehen und die Empfindung haben, dass sich die Gestalt fortschreitend wandelt, ständig tauchen neue Profile auf, die an Menschen erinnern (ähnlich, wie man heute beim Morphing mit Computerhilfe Übergänge zwischen Gesichtern schaffen kann). Tony Cragg verwendet die verschiedensten Materialien, verrätselt sie aber, auch bei den Beispielen hier in Wolfsburg – es wirkt wie ein Spiel mit Geist und Materie. Die „Rote Figur“ ist aus Holz, sieht aber wie Kunststoff aus. (Bilder dieser Skulptur werden auf Plakaten usw. gezeigt.)
Wie kann man Zeit – den Verlauf von Zeit – in einem Kunstwerk sichtbar machen? Eine besonders eindrucksvolle Lösung zeigt Spencer Finch (geb. 1962). Einen sinnlichen Eindruck setzt er in Messergebnisse um, und die verwandelt er wiederum in ein Kunstwerk. Ausgangspunkt sind die Farben des ägäischen Meeres an der Stelle, an der Ikaros dem Mythos nach ins Meer stürzte. Die gemessenen Farbwerte wurden in einen See aus Wachs umgesetzt. Täglich wird während der Ausstellung eine Kerze abgebrannt, die mit ihrem Schmelzvorgang den Wachssee verändert. Reflektiert wird so „das Wechselverhältnis zwischen Wissen und Imagination, wissenschaftlichem Verfahren und künstlerischer Ausdrucksweise. Finch erkennt damit Intuition und sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrumente ersten Ranges an in einer Welt, in der Wissenschaft vermeintlich objektive Maßstäbe bereitstellt und die Deutungshoheit über den Wirklichkeitsbegriff beansprucht".
Und Joseph Beuys? Der sich immer als anthroposophischen Künstler bezeichnet hat (geb. 1925, gest. 1986)? „Seine Auffassung von Plastik wurzelt im Material und einem Entstehen von innen nach außen, als Formung von Organischem, als Materialisation von flüssigen und ätherischen Elementen: Fett, Filz, Erde, Stein, Schall, Die Arbeit Basisraum Nasse Wäsche bezeichnet solch einen Ort der Wandlung: Ursprünglich wortwörtlich realisiert in der Wiener Galerie nächst St. Stephan als Kommentar zu dem damaligen museumspolitischen Plan, die Sammlung des Museums für Moderne Kunst im barocken Palais Liechtenstein unterzubringen, ein Ort, der sich, so Beuys, nur zum Aufhängen triefend nasser Wäsche eignen würde, besteht sie nun aus der mit Seife zu einem festen Bündel verklebten Wäsche, drei Rinnen aus Eisenblech, einer Zinkwanne sowie Glühbirne und Mobiliar. Die Tafel aus dem 1979 in der Galerie gehaltenen Vortrag mit chemischen Formeln und Schaubildern wurde auf einen der beiden Tische montiert“.
Alles in allem eine sehr aufschlussreiche, beeindruckende Ausstellung – unbedingt besuchen!
© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; einige Teile wurden den Wandtexten der Ausstellung entnommen, © in diesen Fällen also Kunstmuseum Wolfsburg.
Bilder, von oben nach unten:
Mario Merz: Installation von Mario Merz, deren langer Titel "Tavolo a Spirale ..." beginnt (erstmals 1976), etwa: Festliche Tafel in Spiralenform. Ein weiteres Werk desselben Künstlers mit dem Titel "Berglöwe" ist an der Wand sichtbar. Eigene Aufnahme, während die Ausstellung noch den letzten Feinschliff bekommt. © Dr. Helge Mücke, Hannover
Darunter: Blick in die Ausstellung "Rudolf Steiner - Die Alchemie des Alltags", Nachbau einer polygonalen Farbkammer. Foto: © Marek Kruszewski
Installationsansicht Katharina Grosse "ohne Titel", © VG Bild-Kunst, Bonn 2010, Foto: Marek Kruszewski
Giuseppe Penone: Albero-Porta (Baumtür), 1993–1995, Zedernholz, 250 x 120 x 120 cm, Besitz des Künstlers, Foto: Luigi Gariglio © VG Bild-Kunst, Bonn, 2010
Präsentation im Japangarten des Kunstmuseum Wolfsburg: Giuseppe Penone, Pelle di Marmo (Marmorhaut), 2001 © VG Bild-Kunst, Bonn 201, Foto: Marek Kruszewski
Olafur Eliasson: Power tower (Kraftturm), 2005, Stahl, Sperrholz, Glühbirnen, 410 x 110 x 110 cm, courtesy der Künstler; neugerriemschneider, Berlin; und Tanya Bonakdar Gallery, New York, Foto: Florian Holzherr © 2005 Olafur Eliasson
Tony Cragg: Red Figure (rote Figur), 2009, Holz, 233 x 215 x 60 cm, Courtesy der Künstler, Foto: Charles Duprat © VG Bild-Kunst, Bonn 2010
Spencer Finch: Ikarus (? der genaue Titel muss nachgetragen werden); eigenes Foto vom Anfang der Ausstellungszeit © Dr. Helge Mücke, Hannover
Joseph Beuys: Basisraum Nasse Wäsche 1979 (Ausschnitt), Installationsansicht, vom Palais Lichtenstein, Wien, Courtesy MUMOK, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Leihgabe der Österreichischen Ludwig Stiftung, Wien; eigenes Foto während der Ausstellung in Wolfsburg © Dr. Helge Mücke, Hannover
Anmerkung: Alle Fotos, die nicht von mir stammen, wurden vom Kunstmuseum Wolfsburg bzw. Vitra Design Museum als Pressefotos zur Verfügung gestellt und sind nicht frei verfügbar. Den beiden Museen, insbesondere den Presseabteilungen, danke ich für ihre Unterstützung.
Danke für Bilder und Worte!!!
bis zum 26.06.10
ade
Raphael
Kommentiert von: raphael ohlms | 10. Juni 2010 um 20:59 Uhr
"Noch nie wurde der "Kosmos Steiner" so umfangreich dargestellt wie durch die beiden Ausstellungen..., sagt der Pressetext." Bloß, der Pressetext -
woher kommt der Pressetext, wenn er nicht - wie man eigentlich annehmen und erwarten sollte - vom Kunstmuseum Wolfsburg als Veranstalter selbst stammt?
Hier finden Sie die Antwort darauf:
http://www.steinerimbrett.wordpress.com/2010/08/16/da-täuschen-sie-sich
Kommentiert von: Steinerimbrett.wordpress.com | 02. September 2010 um 01:34 Uhr