„Wir müssen einen geistigen Staat errichten….“
(Handbuch für ein zeitgemäßes Regieren)
Václav Havel über die Tätigkeit des Politikers
(aus „Sommermeditationen“von Václav Havel)
Eingeleitet und zusammengestellt von Heike Oberschelp
Am 18.12.2011 starb Václav Havel im Alter von 72 Jahren. Zu seiner Beerdigung kamen außer der Familie und Freunden besonders politische Würdenträger, mit denen Havel zu Lebzeiten oft im Widerspruch stand. Das Volk der Tschechen, das ihn wählte und unterstützte, hatte keinen Zutritt.
5 Jahre seines Lebens saß Václav Havel im Gefängnis. Dreimal wurde er verhaftet. Er erregte immer wieder Aufsehen, da er Zensur und den Machtapparat der Politik öffentlich kritisierte. Havel war Mitbegründer und Sprecher der „Charta 77“, einer Petition gegen Menschenrechtsverletzungen und zugleich einer Bürgerbewegung, die bis zur „Samtenen Revolution“ 1989 Verstöße gegen die Menschenwürde an die Öffentlichkeit brachte. Während seiner für ihn qualvollen Gefängnisaufenthalte reichte er einmal ein Gesuch bei den Behörden ein und erklärte seinen Rücktritt als Sprecher der „Charta 77“. Seine Erklärung wurde von Regierungskreisen umgestaltet, veröffentlicht und erweckte den Eindruck, er habe seine Sache verraten, um aus dem Gefängnis zu kommen. „Ich verließ in Schande das Gefängnis und stand im Angesicht einer Welt, die mir als einziger, überaus berechtigter Vorwurf erschien. Niemand weiß, was alles ich in dieser dunkelsten Zeit meines Lebens durchgemacht habe….Es waren Wochen, Monate, Jahre der Scham, innerer Schande, Vorwürfe und verständnisloser Fragen“* „Meinem Versagen verdanke ich, dass ich zum ersten Mal im Leben - wenn mir ein solches Beispiel erlaubt ist - unmittelbar im Arbeitszimmer des lieben Gottes selbst stand. Niemals bisher habe ich ihm so aus der Nähe in das Antlitz geschaut, niemals bisher hörte ich so aus der Nähe seine vorwurfsvolle Stimme, niemals vorher stand ich vor ihr in so tiefer Verlegenheit, so mit Schande bedeckt und verwirrt, niemals habe ich mich so tief geschämt und die Unangemessenheit all meiner Verteidigungen gefühlt.“*
„Also: es war Scham…vor meinen Nächsten, Freunden, Bekannten, der Öffentlichkeit, also Scham vor konkreten, irrenden, Fehler machenden und über den tatsächlichen äußeren und inneren Verlauf meines Vorfalls im Grunde nichts wissenden Leuten…Es ist also überhaupt nicht so, dass es zwei voneinander getrennte und entfernte Welten gäbe, die irdische Welt der irrenden Menschen, an der nicht viel liegt, und die himmlische Welt Gottes, um die einzig es geht. Ganz im Gegenteil: das Sein ist das einzige, es ist überall und hinter allem, es ist das Sein von allem, und es gibt keinen Weg zu ihm als den, der durch diese Welt und dieses mein ´Ich` führt“*
Als Havel im Mai 1979 wieder verhaftet wird, bekommt er erneut die Möglichkeit ein Gesuch einzureichen und ins Ausland zu reisen. Havel lehnt ab und tritt die Gefängnishaft an.
Am 16.1.1989 nahm Havel an einer Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag von Jan Pallach teil, wo in einer Gedenkstunde des Studenten, der sich 20 Jahre zuvor öffentlich selbst verbrannt hatte, gedacht wurde. Havel wurde wiederum festgenommen, verhaftet und zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Diese Mal gab es lautstarke Proteste aus dem In- und Ausland.
Am 24.11.1989 trat die Regierung der Tschechoslowakei zurück, Havel wurde zum Sprecher des Bürgerforums gewählt und am 29.12. zum 1. Präsidenten der befreiten Tschechoslowakei gewählt.
In dem Buch „Sommermeditationen“** reflektiert Havel seine zweijährige Regierungszeit.
Man kann also sagen, dass mich die Revolution an die Spitze des Staates getragen hat…Habe ich doch eigentlich von jeher…, wann immer ich mich für eine Sache engagiert habe, bald an deren Spitze gestanden, nicht weil ich etwa klüger oder ehrgeiziger … war, …weil ich die Menschen versöhnen und wie eine Art Kitt wirken konnte….Es lag also nur in der Ordnung der Dinge, dass ich – obwohl ich formal in Bürgerforen keinerlei Funktion hatte – wiederum als ein Wortführer angesehen wurde…Ich habe mich nicht allzu sehr mit der Frage gequält, ob ich mich für eine solche Funktion eigne oder nicht, ich wurde einfach…- „vom Sein abgezogen“…ich.. war fähig… so souverän aufzutreten, als ob mich mein ganzes Leben für eine Präsidentschaft geschult… hätte. Dem war aber nicht etwa so…(ich wurde) zum Instrument der Geschichte…so ist die Geschichte… auch durch mich vorwärtsgestürmt und hat über mein Tun Regie geführt.(S.9)
Über das Zuhause eines Menschen
Für jeden Menschen ist das Zuhause eine der grundlegenden existentiellen Erfahrungen. Was der Mensch als sein Zuhause wahrnimmt…, kann man mit einem System konzentrischer Kreise vergleichen, in dessen Mitte sich unser „Ich“ befindet. Mein Zuhause ist der Raum, in dem ich einige Zeit leben, an den ich mich gewöhnt habe und den ich sozusagen mit meinen Duftmarken überzogen habe…Mein Zuhause ist das Haus, in dem ich lebe, die Gemeinde oder die Stadt, in der ich geboren wurde oder in der ich mich aufhalte, mein Zuhause ist meine Familie, die Welt meiner Freunde, das gesellschaftliche und geistige Milieu, in dem ich lebe, mein Beruf, mein Betrieb oder mein Arbeitsplatz. Mein Zuhause ist selbstverständlich auch das Land, in dem ich lebe, die Sprache, die ich spreche, das geistige Klima, das mein Land hat und das die Sprache vergegenwärtigt, die man darin spricht. Das Tschechische, die tschechische Art der Wahrnehmung der Welt, die tschechische historische Erfahrung, die tschechische Art des Mutes und der Feigheit, der tschechische Humor- das alles ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil dieser Sedimente meines Zuhauses. Mein Zuhause ist auch für mich mein Tschechentum, das heißt meine nationale Zugehörigkeit, und es gibt keinen Grund, warum ich mich zu diesem Teil meines Zuhauses nicht bekennen sollte…
Mein Zuhause ist …auch… meine Staatsangehörigkeit…auch Europa und mein Europäertum…und auch diese ganze Welt….Mein Zuhause ist auch meine Bildung , meine Erziehung, meine Gewohnheiten, das soziale Milieu, in dem ich lebe…
Ich glaube, dass jeder dieser Schichten des menschlichen Zuhauses das zuerkannt werden muss, was ihr zusteht…
Sie gehören alle zu unserer Lebenswelt, und eine gute gesellschaftliche Organisation muss sie alle angemessen respektieren und allen Gelegenheit zur Entfaltung geben. Nur so kann Raum entstehen für eine freie Selbstverwirklichung des Menschen…..ein von allen Schichten seines Zuhauses entblößter Mensch wäre ganz seiner selbst, seines Menschseins entledigt. (S.23)
Eigenverantwortliches Handeln
(Es hat) mir niemals Schwierigkeiten gemacht…, mir diesen oder jenen Gedanken eines anderen zu eigen zu machen und ihn in mein Weltbild einzufügen, das war allerdings gerade deswegen möglich, weil ich darauf achtete, mir meine innere Freiheit zu bewahren, und es ablehnte, sie durch irgendeine intellektuelle Voreingenommenheit zu beschränken.
…Deshalb macht es mir auch keine Schwierigkeit, eine Ansicht zu ändern, wann immer ich feststelle, dass ich mich irre.
…ich hüte meine Freiheit so sehr, dass ich ohne Schwierigkeiten über alles immer die Ansicht haben kann, die ich mir selbst erarbeite, und dabei nicht von meiner eigenen vorhergehenden Selbsteinordnung gebunden bin.(S.59)
Wirtschaftsleben und Moral
Das Leben ist in seinem Wesen selbst unendlich und geheimnisvoll vielgestaltig und von keinem Zentralgehirn in seiner Fülle und Veränderlichkeit erfassbar und planbar. Der Versuch alle wirtschaftlichen Subjekte unter der Herrschaft des Staates als des einzigen monströsen Eigentümers zu vereinigen und das gesamte Weltwirtschaftsleben einem zentralen Verstand unterzuordnen, der glaubt, der sei klüger als das Leben selbst, ist in seinen Konsequenzen gegen das Wesen des Lebens selbst gerichtet. Es ist dies eine extreme Äußerung der Hybris des neuzeitlichen Menschen, der von sich selbst annimmt, die Welt ganz begriffen zu haben, selbst ihr Höhepunkt zu sein und daher auch berechtigt und fähig, die Welt komplett zu lenken; eines Menschen, der von seinem Gehirn behauptet, es sei die höchste Organisationsform der Materie, und der nicht beachtet hat, dass es hier eine unendlich komplizierte Struktur gibt, von der er nur ein unbedeutendes Teilchen ist, nämlich die Natur, den Weltraum, die Seinsordnung.
(Der Kommunismus war ein Irrweg, der mit dem )Verlust des Sinnes für die Unerforschlichkeit des Lebens und der Demut vor der geheimnisvollen Seinsordnung mit dem Verzicht auf den sittlichen Imperativ „von oben“ und damit auch (dem Verzicht des menschlichen Gewissens einhergegangen ist).
(S.62)
Heute begegnen wir leider recht häufig der Erscheinung, dass die sachliche Analyse konkreter Probleme und deren ruhiges unvoreingenommenes Abwägen aus den öffentlichen Debatten durch etwas wie „Wüten des Marktes“ verdrängt wird. Der Kult der „Systemreinheit“ der Marktwirtschaft kann allerdings genauso gefährlich sein wie die marxistische Ideologie, Weil er aus der gleichen mentalen Haltung hervorgeht, dass die Theorie im Grundsatz klüger ist als das Leben,…Als ob ein allgemeiner Lehrsatz wichtiger wäre als das, was … die menschliche Erkenntnis empfiehlt….
Das Leben ist nämlich etwas mehr… als bloß die Illustration wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Leben…das gesellschaftliche Leben ist keine Maschine, die nach einer uns bekannten Zeichnung konstruiert wäre. …der immer wieder überraschende und uns überlistende Strom des Lebens ist zugleich die einzige permanente Herausforderung für den menschlichen Geist, neue Leistungen zu erbringen. Unter anderem ist es ein großer Fehler anzunehmen Markt und Moral schlössen sich aus. Ganz im Gegenteil: der Markt kann nur dann funktionieren, wenn er eine Moral hat.
(Wissenschaftliche Erkenntnisse können dem Leben dienen), das Leben (ist) nicht nur dazu da…,um jemandem seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bestätigen…die Wissenschaft ist zwar eine bemerkenswerte Frucht und Instrument des menschlichen Geistes, doch das bedeutet noch nicht, dass sie an sich etwas Menschliches garantiert….Ohne die Teilhabe der so wenig wissenschaftlichen Mächte, wie es gesunder Menschenverstand und das menschliche Gewissen sind, geht offenbar nichts. Nicht einmal die Wirtschaftsreform.(67)
Persönliche Verantwortung
(Wie bringt man bei großen politischen Entscheidungen) am besten die wissenschaftlichen, politischen, sozialen und moralischen Kriterien in Übereinstimmung…? Und so entscheidet letztlich immer der Mensch, seine persönliche Verantwortung, seine persönliche Überlegung, seine eigene Einschätzung der Situation, seine Voraussicht. Je weniger er dabei von Ideologien mit ihrer Neigung, theoretische Postulate in Artikel verpflichtender Glaubenslehrer zu verwandeln, gebunden ist und je kleiner aufgrund dessen seine Scheuklappen sind, um so besser ist es verständlicherweise. Ich bin kurz gesagt sehr auf der Hut, wann immer mich Dogmatismus oder Fanatismus anweht, und sei es auch der „marktwirtschaftiche“ mit seinem Wachen über die „systemische Reinheit“.
Das System existiert für die Menschen, keineswegs die Menschen für das System.(S.71)
Unabhängigkeit
Unabhängigkeit ist nicht nur ein Zustand, sie ist eine Aufgabe
…es muss erreicht werden, dass sie nicht nur eine Erschwernis ist, sondern dass sie im Gegenteil auf Dauer allen Bürgern Nutzen bringt. Sie muss das als etwas erfahren werden, um das es zu kämpfen gelohnt hat, das zu verteidigen Sinn hat und das man deshalb achten muss. (S.84)
Politik
In der kurzen Zeit, in der ich in der praktischen Politik tätig bin, habe ich schon begriffen, dass ein Politiker nie ungeduldig sein darf und dass er eigentlich nie mit ruhigem Gewissen sagen kann, etwas sei vollbracht. Die Politik ist ein niemals endender Prozess.(S.90)
Geistige Ziele in der Außenpolitik
Über die Ziele unserer Außenpolitik habe ich schon gesprochen. Diese Ziele setzen jedoch - wenn sie einen gemeinsamen Grund und Sinn haben und logisch miteinander verknüpft sein sollen - noch etwas voraus, etwas, was ich den Geist der Außenpolitik des Staates nennen möchte. So wie der Staat selbst- darauf komme ich übrigens noch – seinen Geist, seine Idee, seine eigene geistige Identität haben muss, muss dies auch seine Außenpolitik haben.
Aus diesem Geist heraus kann erst alles Weitere erwachsen. Dieser Geist ist das, was das Gesicht und geradezu den Stil der Außenpolitik bestimmt. Einzig dieser Geist kann schließlich unserer Unabhängigkeit jenen konkreten Inhalt, Sinn und das Profil geben, das wir brauchen.
Wie also ist der Geist unserer Außenpolitik, und wie sollte er sein?(S.97)
Über Menschenrechte und die Verantwortung der Politiker
Die Menschenrechte sind universell und nicht teilbar. Unteilbar ist auch die menschliche Freiheit: Wenn sie irgendjemandem auf der Welt bestritten wird, wird sie damit dem Menschen als solchem bestritten und damit indirekt allen Menschen. Deshalb ist es unmöglich, zu Bösem oder Gewalt zu schweigen; Schweigen ist deren Unterstützung. …Die Achtung vor der Universalität der Menschen- und Bürgerrechte, deren Unverzichtbarkeit und Unteilbarkeit ist allerdings nur dann möglich, wenn der Mensch begreift, dass er – zumindest im philosophischen Sinne - „für die ganze Welt verantwortlich“ ist und dass er sich so verhalten muss, wie sich alle verhalten sollten, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sich alle auch so verhalten.
Diese Art der Verantwortung erwächst aus dem Erlebnis gewisser moralischer Imperative, die den Menschen zwingen, über den Horizont seines persönlichen Interesses hinauszugehen und bereit zu sein, wann auch immer, allgemein das Gute zu verteidigen, möglicherweise auch für es zu leiden. So, wie in diesem sittlichen Boden seinerzeit unser Dissidententum verankert war, erwächst aus ihr und sollte vor allem weiter der Geist unserer Außenpolitik wachsen. Sie sollte also keine egoistische, rücksichtslose, geistlos pragmatische Politik sein, die bereit ist, ungehemmt die Interessen des eigenen Landes auf Kosten der Interessen aller anderen durchzusetzen, sondern sie sollte im Gegenteil eine Politik sein, die das eigene Interesse als einen wesentlichen Bestandteil des allgemeinen Interesses begreift und die jederzeit fähig ist, sich auch dort zu engagieren, wo sich für sie nicht eine unmittelbarer Vorteil ergibt. Also eine Politik, die sich nach einer „höheren Verantwortung“ richtet, die die Komplexität der heutigen Welt und die Globalität ihrer Bedrohung wahrnimmt, eine humane, gebildete, empfindsame, anständige Politik.(98)
Politik und Gewissen
Das Gespür, das man braucht, um beurteilen zu können, ob wir uns den anderen genau um jenen einen inspirierenden Schritt im voraus befinden oder ob wir in kraftmeierischem Exhibitionismus mit dem eigenen Schicksal spielen und damit bei anderen nur Widerstand hervorrufen, haben die kühl kalkulierenden Pragmatiker keineswegs gepachtet - denen fehlt es aufgrund ihrer Unempfindsamkeit eher. Das Gespür dafür, was die jeweilige Situation erlaubt, schließt die sittliche Orientierung nicht aus, sondern begleitet sie im Gegenteil eher, ist mit ihr verbunden und geht sogar aus ihr hervor, weil es aus denselben Quellen erwächst wie jenes - aus dem verantwortlichen menschlichen Abwägen, der Aufnahmefähigkeit, dem Dialog mit dem eigenen Gewissen.(S.100)
Zukunft
Zur dramatischen Schönheit und Anziehungskraft des Lebens gehört allerdings auch seine Unerforschtheit, unsere Unkenntnis von der eigenen Zukunft…
Also weiß auch ich nichts über die Zukunft unseres Landes, einiges kann ich abschätzen, einiges ahnen, etwas selbst wollen und um etwas kämpfen. Das ist alles.(S.102)
Alle meine Beobachtungen und alle meine Erfahrungen haben mich zu der Überzeugung kommen lassen: wenn die heutige planetarische Zivilisation irgendeine Hoffnung auf Rettung hat, dann liegt sie vor allem in dem, was wir unter menschlichem Geist verstehen. Wenn wir uns nicht gegenseitig im nationalen oder religiösen oder politischen Streitigkeiten erschöpfen wollen, wenn wir nicht wollen, dass auf der Erde bald doppelt so viele Menschen wie heute leben, von denen die eine Hälfte Hungers stirbt, wenn wir uns nicht von ballistischen Geschossen mit Atomsprengköpfen hinausschießen oder durch speziell zu diesem Zweck gezüchtete Bakterien ausrotten lassen wollen, wenn wir nicht wollen, dass die einen hoffnungslos hungern und die anderen Tonnen von Getreide ins Meer werfen, wenn wir nicht im Treibhaus der Erdkugel ersticken wollen, wenn wir nicht verbrannt werden wollen von den durch das Ozonloch dringenden Strahlen, wenn wir die mineralischen Vorräte dieses Planeten, ohne die wir nicht auskommen, nicht völlig plündern wollen, wenn wir also all dies nicht wollen, dann müssen wir - als Menschheit, also als Menschen, als bewusste Wesen mit Seele und Verantwortung - auf irgendeine Weise zur Besinnung kommen.(S.117)
Havel über Medizin
Der Mensch ist …nicht nur ein Garderobenständer für verschiedene Organe…, die ihm Spezialisten am Fließband in Ordnung bringen können…, sondern er ist ein integrales Wesen, in dem, …alles mit allem zusammenhängt, das eine Seele hat und in dem alles irgendwie rätselhaft mit dieser Seele verbunden ist.(s.122)
Politik als Dienst am Nächsten
Wirkliche Politik, Politik, die diesen Namen verdient, und übrigens die einzige Politik, der ich mich zu widmen bereit bin, ist schlicht der Dienst am Nächsten. …..Der Dienst auch an denen, die nach uns kommen. Ihr Ursprung ist sittlich, weil sie nur die verwirklichte Antwort gegenüber dem Ganzen und für das Ganze ist…..Sie erwächst nämlich aus der bewussten oder unterbewussten Gewissheit, dass mit unserem Tod nichts endet, weil alles auf ewig aufgeschrieben und anderswo gewürdigt wird, irgendwo „über uns“, in dem, was ich einst das „Gedächtnis des Seins“ genannt habe, in diesem nicht wegzudenkenden Bestandteil des Kosmos, der Natur und des Lebens, das die Gläubigen Gott nennen und dessen Urteil alles unterliegt. Es hilft nichts: Gewissen und Verantwortung sind immer Ausdruck der stillschweigenden Anerkennung dessen,
dass wir „von oben“ beobachtet werden, dass „oben“ alles zu sehen ist, dass dort nichts vergessen wird, dass es also nicht in der Macht der irdischen Zeit steht, den Vorwurf irdischen Versagens aus der Seele zu tilgen: Unsere Seele nämlich ahnt, dass sie nicht die einzige ist, die von diesem Versagen weiß.(S.131)
Politik ist dem Gewissen unterworfen
Häufig fragen mich Journalisten „ob (sich)die Idee einer dem Gewissen unterworfenen Politik überhaupt in der Praxis verwirklichen lässt; und ob ich – seit ich in einer hohen staatlichen Funktion bin – nicht vieles von dem, was ich als unabhängiger Kritiker der Politik und der Politiker geschrieben habe, revidieren musste…
Mancher wird mir wohl nicht glauben, doch ich kann – nach anderthalb Jahren als Präsident in einem Land voller Probleme, von denen Präsidenten in stabilisierten Demokratien nicht einmal träumen - verantwortlich sagen, dass ich nicht gezwungen war, etwas von dem zu widerrufen, was ich früher geschrieben habe. ….Nicht nur, dass ich meine Ansicht nicht ändern musste, ich bin sogar in ihr bestätigt worden!
Trotz aller politischen Armseligkeit, mit der ich täglich konfrontiert werde, bin ich auch heute fest davon überzeugt, dass Politik in ihrem Wesen nicht schmutzig ist; schmutzig wird sie höchstens von unsauberen Menschen gemacht…
(S.135)
Geschmack ist wichtiger als alle politische Bildung..
.Aber es stimmt nicht, dass ein Politiker notwendigerweise lügen oder intrigieren muss….Es genügt eines: Takt, Instinkt und Geschmack zu haben. Eine meine überraschenden Erfahrungen aus der „hohen Politik“ ist gerade diese: Geschmack ist wichtiger als alle politische Bildung….
Aber nicht nur das: es bedeutet auch, einen gewissen Instinkt für die Zeit zu haben, die Atmosphäre der Zeit, die Stimmung der Menschen, den Charakter ihrer Sorgen, ihre mentale Verfassung – auch das ist vielleicht wichtiger als vielfältige soziologische Forschungen….
Damit sage ich, Gott behüte, nicht, dass ich selbst über diese Eigenschaften in hohem Maße verfüge, überhaupt nicht! Ich schildere nur meine Beobachtungen.
…Wenn jemand bescheiden ist und nicht nach Macht strebt, ist er nicht etwa ungeeignet, sich der Politik zu widmen, sondern gehört im Gegenteil in sie hinein. Die Voraussetzung der Politik ist nicht die Fähigkeit zu lügen….Ich glaube, dass diese meine Erfahrungen und Beobachtungen bestätigen, dass Politik als praktizierte Sittlichkeit möglich ist. (S.136f)
Politik als praktizierte Sittlichkeit..
Wie wichtig es auch ist, unsere Wirtschaft auf die Beine zu stellen, …Nicht weniger wichtig ist es, alles zu tun, was möglich ist, um die allgemeine Kultur des Lebens anzuheben.
Niemand wird mich überzeugen, dass erst eine besser bezahlte Krankenschwester sich gegenüber dem Patienten anständiger benehmen kann, dass nur ein teureres Haus schön sein kann, dass nur ein reicher Kaufmann freundlich sein kann…Ja, ich würde noch weiter gehen und sagen, dass in vielerlei Hinsicht im Gegenteil die sich vertiefende Kultur des Lebens die Entwicklung der Wirtschaft beschleunigen kann -…. Alles, womit ich imstande sein werde, zu einem solchen Programm der Anhebung der allgemeinen Kultur beizutragen, will ich tun, sei es als Präsident oder als was auch immer, weil ich das als einen integralen Bestandteil und logische Konsequenz meines Verständnisses von Politik als praktizierter Sittlichkeit und als angewandter „höherer Verantwortung“ empfinde“.(S.140f)
Der Kampf in jedem Menschen
Das Paradies auf Erden…wird es nicht geben…Das Böse wird immer existieren, menschliches Leid wird niemand ausrotten…Weder ich noch irgendjemand sonst wird diesen Krieg ein für allemal gewinnen… Trotzdem scheint es mir sinnvoll zu sein, diesen Kampf ausdauernd und kontinuierlich zu führen…Einfach, weil er geführt werden soll….Es ist ein Kampf, der in jedem Menschen stattfindet. Er ist sogar ein Kampf, der den Menschen zum Menschen und das Leben zum Leben macht….
Ich spüre nur die Verantwortung, mich für das einzusetzen, was ich für gut und richtig halte. Ob es mir hin und wieder gelingt, tatsächlich etwas zum Besseren zu wenden, oder ob es mir überhaupt nicht gelingt, etwas zu verändern, das weiß ich selbstverständlich nicht. Ich lasse beide Möglichkeiten zu. Ich lasse nur eines nicht zu: dass es grundsätzlich keinen Sinn machte, das Gute anzustreben.(S.142)
Ein geistiger Staat als Grundlage eines Rechtsstaates
Ich bin überzeugt, dass wir weder einen Rechtsstaat noch einen demokratischen Staat bauen werden, wenn wir nicht gleichzeitig… einen menschlichen, sittlichen, geistigen und kulturellen Staat bauen werden.(S.144)
Es gibt keine einfache Anleitung. Einen geistigen oder sittlichen Staat kann man leider weder durch eine Verfassung noch durch ein Gesetz oder Anordnung errichten. Es ist eine sehr anspruchsvolle, langfristige und nie endende Erziehungs- und Selbsterziehungs-, Bildungs- und Selbstbildungsarbeit; es ist dies eine Angelegenheit des ständigen lebendigen und verantwortlichen Abwägens jedes politischen Schrittes, jeder Entscheidung…Es ist eben nichts, was sich verkündigen oder einführen ließe. Es ist dies nur eine Art und Weise des Handelns und des Mutes, ständig und in alles sittliche und geistige Motive einzubringen, ständig und in allem sie zu kultivieren, ständig und in allem die wirklich menschliche Dimension zu suchen. Wissenschaft, Technik, Spezialistentum, sogenannte Professionalität reichen dazu nicht aus. Es ist etwas mehr nötig. Vielleicht kann man es der Einfachheit halber Seele nennen. Oder Gefühl. Oder Gewissen.(S.146)
Mich zu diesem scheinbar einfachen und logischen Standpunkt durchzuarbeiten war für mich …in keiner Weise leicht. Wenn ich aber nun einmal dort angelangt bin, halte ich es für richtig, dies auch zu sagen…als Ergänzung dessen, was darin steht.
Gott mit uns!(S.158)
Verwendete Literatur:
**V.Havel: Sommermeditationen, rororo, Rowohlt Taschenbuch, 1994
Michael Simmons: V.Havel, Staatsmann mit Idealen
*Walther Falk in „Stimmen der Zeit“: V. Havels geistiger Weg (Archiv)
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