Bernd Wolff - Winterströme, Goethes erste Harzreise, eine Lese-Empfehlung
Ich bewundere sehr, wenn jemand das kann: gründliche dokumentarische Vorarbeit so umschmelzen, dass eine
lebendige, bildhafte Erzählung daraus wird. Bernd Wolff, geboren 1939
in Magdeburg, ist offenbar ein Meister darin. Dank an den Pforte-Verlag dafür, dass er diesen Roman neu herausgebracht hat (2008), der bereits
1986 in der DDR im Verlag der Nation Berlin erschienen war und offenbar
so gerne gelesen wurde, dass er bis 1990 noch zweimal neu aufgelegt
werden konnte.
Mit
nur achtundzwanzig Jahren steckt Goethe in einer tiefen Krise, es
sollte nicht seine letzte sein: Die geliebte Schwester Cornelia ist
gestorben, die Arbeit für einen labilen Herzog in einem maroden Land
bringt keinen Fortschritt, mit dem Dichten kommt er auch nicht weiter -
eine Schreibhemmung nach dem großen Erfolg des "Werther" - und seine
Liebe zu der verheirateten Charlotte von Stein ist zum Misserfolg
verdammt. Was macht Goethe, dessen Biografie uns immer wieder so
exemplarisch vorkommt, was kann er schon machen in solch einer Krise?
Neue Liebe wäre ein Weg; was ihm später oft helfen sollte, spielt hier
eine geringere Rolle. Eine Reise kann helfen, wenn sie nicht nur
Fluchtbewegung bleibt, wenn sie wirklich den Reisenden verändert.
Diese
Reise in den Harz hat Goethe verändert, das arbeitet Wolff anschaulich
heraus: Der Dichter gewinnt neue Tiefen und Höhen und stärkt seine Ichkraft. Schon während der
Reise fließen ihm wieder Verse, das Gedicht "Harzreise im Winter"
entsteht, am Schluss des Buches ist es abgedruckt. "Dem Geier gleich
..." wird zu einem der Leitmotive; übrigens ist der "Mäusegeier"
gemeint, der Bussard. Könnte man doch wie ein Vogel hoch oben schwebend Überblick gewinnen über sein Schicksal!
Übrigens: Wer es gewohnt ist, in einem neuen Buch von
hinten zu blättern, wird sich nicht nur über das Gedicht freuen, er
wird sich auch wundern, dass der Name Goethe fast gar nicht vorkommt,
immer ist von einem Weber die Rede - Goethe reist incognito, er hat den
Namen Weber angenommen, angeblich ein Maler.
Zwar bittet Goethe artig den Herzog um Urlaub und macht auch einen
Abschiedsbesuch bei Charlotte, aber der Beginn wird doch als Flucht inszeniert, mit unbekanntem Ziel. Gegen den Rat seines Vertrauten und Dieners
Philipp, der zum Stillschweigen verpflichtet wird, bricht er mit seinem
Schimmel bei schlechtem Wetter auf; "froh, dass das Wetter seine
Entscheidung wichtig machte. Bei gutem Wetter reisen kann jeder." Der
besorgte Philipp bringt ihm den Mantel mit den Worten "einen Mantel
muss der Mensch schon haben". Einen Mantel muss der Mensch schon haben,
das wird zu einem weiteren Leitmotiv - der Mantel als Schutz, als wärmende Hülle, als Tarnmantel, als Hilfe, im Inneren neue Frucht zum Reifen zu bringen.
"Das hat sich mir bestätigt auf
dieser Reise", denkt er laut S. 280, "nicht, wer sich verkriecht und
selbst bemitleidet, sondern wer Großes angeht, schafft auch Großes, mag
ihm auch manches misslingen. Das Gewand Weber, ich kann es bald
zurücklassen wie meinen Mantel, ich bedarf dessen nicht mehr, ich bin
wieder ich. Und werde doch immer auch ein Wirker sein."
Wirker möchte
er sein - der Grundkonflikt des Intellektuellen mit dem Tatmenschen
wird schon bildhaft vor der Reise angesprochen: Philipp ist beim
Eierkuchenbacken, Goethe will es an einem auch versuchen, es misslingt,
der Diener nimmt ihm rasch die Pfanne aus der Hand. "'Philipp, so wie
mein Eierkuchen, so bin ich auch: so zerrissen!' 'Das ist bloß, weil
Sie sich um alles so viel Gedanken machen. Sehen Sie her. es geht ganz
einfach.'"
Der
Aufbruch - Die Begegnung - Die Tiefe - Die Höhe - Epilog (ein kurzer
Tagebuchauszug): Die Kapitelüberschriften markieren die Stationen
dieser Reise zu sich selbst. Er begegnet einfachen tätigen Menschen,
auch solchen, die im Elend leben; sucht andererseits unerkannt den
hypochondrisch untätigen Philosophen Plessing auf, der einmal aus
Begeisterung für den "Werther" zu ihm Verbindung aufgenommen hatte; er
lässt sich in Stollen und Höhlen führen, kommt dabei einmal fast zu
Tode; und er wandert schließlich - im Winter! - auf den Gipfel des
Brocken.
Aufbruch:
"Jeder Weg, auch der kümmerlichste, zeugt von Menschen, die ihn
gegangen sind, führt von Menschen weg oder zu Menschen hin" (S. 38). Begegnung:
"(Weber:) 'Wer Gefahren scheut, wird immer unterliegen.' (Plessing:)
'Wer Gefahren mutwillig herbeiführt, muss sich nicht wundern, wenn es
ihm an den Kragen geht.' (Weber:) 'Sie sind, wie Sie mir gestanden,
unzufrieden mit Ihrem Hiersein, aber Sie wollen es nicht ändern.'
(Plessing:) 'Ändern? Die warme Stube vertauschen mit dem unfreundlichen
Winterwetter, nennen Sie das ändern?'" (S. 150 f.) Die Tiefe: "Jetzt
geht es in die Tiefe, zu den Müttern oder zu den Teufeln, wer weiß?
dachte er, der Mensch hat viel Häute abzustreifen und muss durch
manches Nadelöhr hindurch, so will ich denn Mut dazu haben" (S. 206). Die Höhe:
"Weber stand und schaute. So hatte er's erreicht. So war ihm Erfüllung.
Wie doch höchstes Glück immer auch verbunden ist mit Wehmut, mit
Schmerz. Weiter ging es nicht mehr, nur noch zurück (S. 282) ... Aber
die Wehmut, die Trauer, die er oben empfunden, hing ihm an wie Rauduft,
er würde sie nie wieder gänzlich verlieren können" (S. 285).
Bernd
Wolff schildert das alles in einer wunderbaren Sprache, karg und doch
voller Bilder einer naturhaften Urtümlichkeit, wie der Harz. "Mitte
November wurde es noch einmal unerwartet milde, nahezu frühlingshaft.
Doch in den Nächten, schwarz und schwer und lang, streifte der Frost
durch die Gegend, klopfte an die Fenster und hinterließ gläserne
Fußspuren" - so werden wir schon am Anfang mit unseren Lese-Augen
mitten hinein geführt. Ich kann die Lektüre nur wärmstens empfehlen.
Bernd Wolff: Winterströme. Goethes erste Harzreise. Roman. Pforte Verlag: Dornach 2008. 294 Seiten, 24 Euro.
© Text Dr. Helge Mücke, Hannover; das Bild ist die Wiedergabe der Einbandgestaltung des Verlages.
Letzte Kommentare