Archäologie-Ausstellung Landesmuseum Hannover: Gutingi - vom Dorf zur Stadt, bis Januar 2007
Da war sie plötzlich, die Faszination, die Archäologen offenbar immer wieder einmal befällt und motiviert, durch alle Mühen und Knochenarbeit hindurch: Unglaublich, sagte die Fachfrau, da steht man mit diesen Tellern in der Hand und stellt sich vor, dass vor siebenhundert Jahren Mönche davon gegessen haben, von genau diesen Tellern!
Diese Faszination immer wieder zu vermitteln, das schafft die Ausstellung des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, die in ähnlicher Form bereits 2005 in Göttingen gezeigt worden war - aber die beiden zuständigen Göttinger Fachleute, die Grabungsleiter Betty Arndt und Andreas Ströbl, haben sich bei der Eröffnung begeistert über die Präsentation in Hannover geäußert; ein Lob aus diesem Munde kann man, denke ich, nicht hoch genug werten. Kein Wunder also, wenn die Ausstellung in Hannover auf Grund der ersten Erfolge bis zum 14. Januar 2007 verlängert wurde ...
Mühen, Knochenarbeit, Schweiß von zahlreichen beruflichen und freiwilligen Helfern müssen diese Ausgrabungen tatsächlich gekostet haben (selbst Fotos lassen das ahnen), eine der größten innerstädtischen Ausgrabungen der niedersächsischen Gegenwart überhaupt - die notwendig, aber auch ermöglicht wurde, weil an dieser Stelle das Eisenwaren-Kaufhaus Lünemann abgerissen und für Kaufland eine neue Bebauung geplant wurde: 2.600 Quadratmeter Fläche, rund 3.700 Kubikmeter zu bewegender Erde, begonnen im Januar 2003 bei beißender Kälte von -16 Grad, fortgeführt in einem Jahrhundertsommer mit ungewöhnlichen Hitzegraden bis in den regnerischen Spätherbst hinein. Die Ergebnisse sind großartig, zeigen ein lebendiges Bild des Alltags in der Siedlung, die den Ursprung Göttingens bildete, über Jahrhunderte hinweg. Übrigens ist die - längst nicht abgeschlossene - Auswertung ein Musterbeispiel interdisziplinärer Zusammenarbeit der verschiedensten Wissenschaftler.
Lange wusste man nicht, warum Göttingen so heißt, welchen Ursprung der Name hat. „Gutingi“, da ist man heute sicher, leitet sich vom altsächsischen bzw. ostfälischen „guta“ (Gote) ab, das mit „gießen“ und „Gosse“ verwandt ist und etwa mit Wasserrinne übersetzt werden muss - Göttingen (gutingi) war also die Siedlung an der Wasserrinne. Diese Gote muss ein umgeleitetes Stück des Reinsbachs gewesen sein, dessen nördlicher Arm vom Hainsberg herabfloss und der sein Wasser letztlich in die Leine brachte - hier im Siedlungsbereich hatte die künstlich geschaffene Wasserrinne, wie üblich, die Doppelfunktion der Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung. Besucher der Ausstellung können die Rinne, die Gote, heute auf einer Holzbrücke symbolisch überqueren ...
Erwähnt werden muss noch, dass die spätere Stadt nicht ganz genau an dieser Stelle entstehen sollte, sondern etwas weiter nordwestlich, und der dörfliche Ursprungskern war noch lange als „Altes Dorf“ in den Dokumenten vorhanden.
Und - eines der wichtigsten grundsätzlichen Ergebnisse der Ausgrabungen ist die Datierung: Göttingen (genauer: das Vorläuferdorf) ist rund 300 Jahre älter, als man bis vor kurzem noch glaubte - Mitte des 7. Jahrhunderts existierte es bereits. Das beweisen die körnig-gräulichen Tontöpfe, die teils vollständig erhalten an einer alten Feuerstelle gefunden wurden und seinerzeit zum Kochen oder zur Vorratshaltung dienten. Die erste schriftliche Erwähnung fand Göttingen „erst“ 953 in einer Urkunde Kaiser Ottos des Großen - auch dieses kostbare Pergament ist in der Ausstellung im Original zu sehen!
Ein armes Dorf war gutingi nicht; verschiedene Gesichtspunkte sprechen dafür, dass hier eine eher wohlhabende Bevölkerung lebte und arbeitete: Außer der Lebensgrundlage durch Ackerbau und Viehhaltung gab es in Grubenhäusern (sie standen in einer Vertiefung im Boden) verschiedenste Handwerker von hohem Standard: u.a. Schmiede, ein Knochenschnitzer (er stellte z.B. Kämme her), auch ein Gerber - etwas außerhalb, denn sie galten schon damals als Umweltverschmutzer. Bernstein- und Specksteinfunde belegen intensive Handelsbeziehungen von diesem Dorf aus. Glasfunde, Schmuckteile, verzierte Schalen sind von besserer Qualität. Das Bruchstück einer Jakobsmuschel muss von einem Pilger stammen, der sie vom Jakobsweg ins Dorf als symbolischen Beleg mit zurückgebracht haben wird. Verschiedene Zeugnisse müssen oder können als Spiel-Elemente (Spielsteine, Murmeln, kleine Ringe) gedeutet werden. All das wäre in einer ärmlichen Bevölkerung eher unwahrscheinlich gewesen.
Eine der Besonderheiten ist die abgebildete Geweihscheibe, die höchstwahrscheinlich als Spielstein für ein Backgammon ähnliches Spiel zu deuten ist. Schwierig zu verstehen ist die Bilddarstellung: Sie zeigt ein Mischwesen, das links und rechts je einen Vogel am langen Hals hält. Auf einem Stein aus Dänemark ist ein ähnliches Relief zu sehen. Im Katalog werden die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten diskutiert. Interessant ist in dem Zusammenhang das Alexanderlied des Pfaffen Lambrecht von 1125: Danach soll Alexander auf die Idee gekommen sein, zwei Greife an einen Korb zu ketten, die ihn in die Luft mitnahmen, während er ihnen auf einer Lanze ein Stück Fleisch entgegenhielt.
Auch das abgebildete Stangenglas mit Wulstauflagen und die Schale mit dem springenden Hirsch sind besondere Fundstücke.
So hat jeder Fund seine eigene, spannende Geschichte - und das eben macht die Ausstellung auf anregende Weise deutlich.
Für
mich persönlich sind selbst solche kleinen Beispiele schon spannend: Da
wird eine kleine Flöte gezeigt (aus der Zeit um 1100?), hergestellt aus
einem Wasservogelknochen, die höchstwahrscheinlich bei der Vogeljagd
als Lockflöte benutzt worden war ...
So könnte ich noch viel
erzählen - aber ich will Sie anregen, nicht Ihnen vorgreifen. Erleben
Sie lieber die Ausstellung selber: Die vielen, gut präsentierten
Fundstücke, originalgetreue Modelle, ein audiovisueller
Computeranimationsfilm lassen das Dorf aus der Zeit vor über 1300
Jahren lebendig werden. Wie gesagt, noch bis zum 14. Januar ...
Weitere Infos auf der Seite des Landesmuseums.
© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bilder: Pressefotos des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, nicht frei verfügbar
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