Thomas Hürlimann: Vierzig Rosen - LiteraTour Nord 2006-2007, 5. Lesung
Eine Frau wartet an ihrem Geburtstag auf den Blumenboten. Wie in jedem Jahr wird er ihr vierzig rote Rosen bringen, als Zeichen der Liebe von ihrem Mann, der in der Hauptstadt als Politiker arbeitet. Später wird sie dorthin fahren, um den offiziellen Teil zu absolvieren, den Empfang zu ihrem „vierzigsten“ Geburtstag.
Selten hat sich mein Verhältnis zu einem Buch so gewandelt wie bei der Beschäftigung mit diesem Roman des Schweizers Thomas Hürlimann. Aus zwei Gründen: Die Sprachkraft des Autors erzeugt Nachklang, lässt lebendige Bilder von den (gar nicht so zahlreichen) Personen entstehen, nimmt einen in einen Zeitsog hinein, der nicht so schnell loslässt. Und, der zweite Grund: Lesung und Gespräch (in Hannover am 31. Januar) haben so viel Gewinn gebracht, wie man es sicherlich nicht jedes Mal erwarten kann, wie es aber in beglückender Weise immer wieder einmal geschieht. Abermals ein dankbarer Blick auf die Literaturetage in Hannover, die das ermöglicht ...
Ich war, ich muss es gestehen, mit einem Vorurteil zu der Lesung gekommen (nach Lektüre von nicht einmal einem Drittel des Romans): Wie kann man als moderner Schriftsteller heute so eine Frauenrolle darstellen? Diese Sichtweise aber erwies sich, schon an dem Lese-Abend, erst recht durch die weitere Lektüre, als zu oberflächlich ...
Marie Katz, begabte Pianistin, hat ihre mögliche Karriere ihrem Mann zuliebe aufgegeben. Max Meier, der aus einfachen Verhältnissen stammt, strebt ein höheres politisches Amt an und braucht eine schöne First Lady an seiner Seite. Marie bleibt aber zeit ihres Lebens im „Katzenhaus“ wohnen, das ihr jüdischer Großvater einst begründet hatte, seines Zeichens Konfektionär, Schneider für die besseren Kreise; sie selber war nach dem frühen Tod ihrer zum Christentum konvertierten Mutter vom Vater großgezogen worden. Dennoch muss sie 1939, da ist sie 13 Jahre alt, zu ihrem Schutz in ein sehr frommes katholisches Internat geschickt werden, denn „die Nibelungen“ dringen mehr und mehr auch in die Schweiz vor.
Max Meiers Vorzüge sind seine rhetorische Begabung und der politische Ehrgeiz; Marie kann nicht nur repräsentieren, sie versteht es auch, klug im Hintergrund die Fäden zu ziehen - „on a du style“ lautet das Motto, das sie von ihrer Mutter mitbekommen hat, man hat Haltung zu bewahren, der Stil ist beizubehalten, gleich, was geschieht.
Dies alles wird in einer wunderbar geschmeidigen Sprache erzählt, die dem jeweiligen Gegenstand angemessen ist. Ein Meisterstück ist beispielsweise die eine einzige wiedergegebene Rede des Max Meier, die er zur Eröffnung einer Ausstellung des Malers Percy hält (S. 218 ff.): Erst hebt der Politiker den Maler mit seinen ausgestellten gegenständlichen Werken (darunter ein Porträt der Politikergattin als Künstlerin) auf den Schild, dann leitet er elegant zu einer vernichtenden Kritik über, indem er die mögliche Entwicklung des Künstlers hin zur Abstraktion schildert. Der Maler wird das Malen aufgeben und zum Starfriseur avancieren. Auf wenigen Seiten vereint Hürlimann hier wie in einem Brennglas mehrere Beleuchtungsebenen der Erzählung: die politische Begabung des Max Meier, das Verhältnis zu seiner Frau (er verwendet in der Rede Elemente aus einem Gespräch mit Marie), die mit Eifersucht bedachte Verbindung zwischen Percy und Marie (tatsächlich die einzige tiefere innerliche Verbindung, die bis ans Lebensende tragfähig bleibt), die Wirkung einer demagogischen Rede auf die Zuhörer. Sprachlich meisterhaft ist auch, wie doch die Brechung der grundsätzlich akzeptierten Rolle im Bewusstsein der Frau verdeutlicht wird.
Bewundernswert finde ich letztlich - obwohl ich mich
auch daran erst gewöhnen musste - den Umgang des Autors mit der Zeit:
Erzählzeit, erzählte Zeit, ihr Verhältnis zueinander wären ein
Extra-Essay wert. Das eingangs geschilderte Warten der Frau auf die
vierzig Rosen bildet den Rahmen - in ihm wird fast ein ganzes Leben
entfaltet, mit dem Abschnitt „Das Atelier“ wird der Leser unvermittelt
in die frühe Kindheit der Marie Katz (kurz vor dem Tod der Mutter)
hineinversetzt, am Faden der Autofahrt zur offiziellen Geburtstagsfeier
wird mit „Unterwegs I“ bis „Unterwegs III“ der Rahmen gelegentlich
fortgesetzt, um dann „Im Strudel“ turbulent, und dann doch wieder mit
stilvoller Haltung zu enden. Und schließlich gelingt es dem Autor auch
noch, ein Bild der gealterten Marie zu zeichnen. Niemand schickt mehr
rote Rosen. Die Geburtstagsfeier findet - so, wie sie immer war - nur
noch in ihrer Fantasie statt.
Durchgängiges Symbol des Romans, auch auf dem Umschlag abgebildet, ist
die Schere, das Schneiderwerkzeug mit den beiden Klingen. So gibt es
immer wieder Doppelungen, bis in die Überschriften hinein: „Marie Katz
/ Marie Meier“, „Kommen / Gehen“, „Doppelrolle“ und „Morgen im Atelier
/ Abend im Grand“ (das letzte Kapitel). Marie sieht sich selber oft in
der Doppelrolle - es gibt die „Spiegelmarie“ und die „Sternenmarie“
(erst auf S. 293 benennt Marie es selber so: „À propos dialektischer
Prozeß: Jene, die im Innern lebt, habe ich Sternenmarie getauft, die
äußere Spiegelmarie“). Man lernt begreifen, dass genau das ihr Weg ist,
sich selber treu zu bleiben!
Aber es gibt auch immer wieder, wie ich es empfinde, die Schnittpunkte,
Kreuzungspunkte der beiden Scherenklingen. Beispielsweise der
Spätsommer 1939 in Genua, als der Vater angeblich mit dem
Auswandererschiff nach Afrika reist, aber ohne Marie, die stattdessen
ins Internat kommt; drei Jahre später, als Marie aus dem Internat
ausbricht und dabei ihren künftigen Mann Max geradezu benutzt; nach
Ende des Krieges der Beginn ihres Doppellebens während des
Musikstudiums am Konservatorium; die bereits erwähnte Rede über den
Maler Percy und die Fehlgeburt ihrer Zwillingskinder; der Zeitpunkt
etliche Jahre später, nach der Geburt des Jungen, als Marie während
einer Afrikareise klarstellt, dass sie das Katzenhaus nicht verlassen
und nicht in die Hauptstadt ziehen würde (bald darauf lernt sie
überhaupt erst Auto fahren).
Das alles sollte jedoch nicht schematisch-einengend verstanden werden:
Es ist schon erstaunlich, wie es Thomas Hürlimann gelingt, Marie auf
diese Weise zu einer vielschichtigen, lebendigen Figur werden zu
lassen. Sie gewinnt ihre Stärke auch daraus - so hat es der Autor im
Gespräch deutlich werden lassen -, dass sie für sich verschiedene
Zeiten zur Verfügung hat, aus der Vergangenheit in der Gegenwart lebt
und Zukunft schafft, während ihr Mann als Politiker ganz auf die
Zukunft ausgerichtet ist und sofort zusammenbricht (geistig verwirrt
wird), als er im Alter keine Perspektive mehr vor sich hat: „Meier
gehörte zu den Menschen, die nur steigen können - nicht fallen“.
Die Lektüre des Buches kann ich nur empfehlen - ein Lese-Abenteuer, bei
dem keine Leere zurückbleibt, sondern lebensvolle Bezüge zur
Alltagswelt und zur eigenen Biografie in einem entstehen können, und
ich denke, das ist nicht die schlechteste Empfehlung für einen Roman.
Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug in der Schweiz geboren, studierte
Philosophie, arbeitete als Regieassistent und lebt seit 1980 als freier
Schriftsteller, heute vorwiegend in Berlin. Bekannt wurde er u.a. durch
verschiedene Theaterstücke wie „Großvater und Halbbruder“, den
Erzählungsband „Die Tessinerin“ (1981) und die Novelle „Fräulein Stark“
(2001). Er gehört zu den allerersten Autoren des Ammann-Verlages, der
im vorigen Jahr sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert hat.
Thomas Hürlimann: Vierzig Rosen. Roman. Zürich: Ammann 2006. 368 Seiten, Euro 19,90.
© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Schutzumschlag des Verlages
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