Der Erde näher als den Sternen? Emil Schumacher, Sprengel-Museum Hannover, seit Februar 2007
Ja, er war wohl der Erde näher als den Sternen. Den Eindruck kann man jedenfalls haben, wenn man ihn auf Fotos (z.B. im Katalog) bei seiner Arbeit sieht: In Socken steht er auf und über der Leinwand und bewegt Material. Meistens ist es Ölfarbe, oft aber auch sind es die verschiedensten weiteren Materialien.
Etwas überspitzt, gewiss, seine „Malerei“ erscheint mir wie ein Ausdruckstanz mit dem Wirkstoff.
„Der Erde näher als den Sternen“: der Titel der wunderbaren, hervorragend gestalteten Ausstellung im Sprengelmuseum in Hannover beruht auf einem Zitat von Emil Schumacher - dennoch kann man sich fragen, ob er nicht den Sternen genauso nahe war. Zumindest in seinen „Bogenbildern“ (siebziger Jahre, da war er selber in den 60ern), bei denen der Bogen von der Erde zum Himmel, zu den Sternen, und wieder zurück zur Erde reicht. Der Bogen lässt sich nicht beschränken, er ist ein Zeichen der Freiheit und reicht für ein ganzes Leben, ist Überbrückung und Spannung zugleich. Den Sternen so nahe wie der Erde. Ein Foto zeigt den Künstler, wie er sich mit v-förmig gestreckten Armen nach dem Bogen oben reckt, an der senkrecht aufgestellten Leinwand, die hier wie Packpapier wirkt, mit vielen Falten und Rissen. Symbolhaft: das Maß für meine Kunst bin ich. „Raumtiefe“, so hat es Emil Schumacher 1972 ausgedrückt, „nicht nur Tiefendimension des Bildes, sondern greifbare, tastbare Nähe ... Raumweite. Linie, die den Raum beschreibt. Bögen, die ihn umspannen, Konturen, die ihn begrenzen. Begrenzter, endlich messbarer - und doch nicht nachmessbarer Raum.“
Meine Begeisterung, ich muss es gestehen, für diese Ausstellung, die rückblickend ein Leben umspannt, ist grenzenlos (unmittelbarer, als bei den meisten, die ich in letzter Zeit gesehen habe, Gegenwartskunst und klassische Moderne). Ob das Informel heißt, welche Schublade passt, ist mir ebenso gleichgültig wie offenbar dem Künstler.
Emil Schumacher wurde 1912 im westfälischen Hagen geboren und starb 1999 auf Ibiza - nach rund siebzig Jahren rastloser künstlerischer Produktivität. „Farben und durch die Farben innere Zustände - seit meiner Kindheit hat es mich nicht mehr losgelassen. Immer wieder male ich mein Bild. Das ist meine Aufgabe und meine Freude (1957)“. Von 1932 bis 1935 besuchte er die Kunstgewerbeschule in Dortmund, wo er eine grundlegende handwerkliche Ausbildung als Werbegrafiker bekam. Von 1935 an arbeitete er als freier Maler, ohne seine Bilder auszustellen. Während des Zweiten Weltkriegs war er in einem Hagener Rüstungsbetrieb dienstverpflichtet. Schumachers eigentliche künstlerische Entwicklung setzte erst 1945 ein. Für ihn galt es damals, wie er selbst formulierte, „von vorn anzufangen“, etwas „Neues“ und von keiner Tradition Belastetes zu schaffen. „Nicht ohne Bitterkeit denke ich zurück an die Jahre zwischen 1933 und 1945. Es waren die besten Jahre meines Lebens, meine Jugendjahre, die mir gestohlen wurden“, schreibt er rückblickend 1992. Und fügt sogar hinzu: „Als ich 1934 meine frühe Einzelausstellung bekommen sollte, war ich künstlerisch bereits weiter als bei meinem Neuanfang nach 1945.“
Die Ausstellung in Hannover zeigt nur „Gemälde“
(Materialbilder, Bilder mit Collage-Elementen usw., die Grenzen sind
fließend) - jedenfalls sind sog. Grafiken ausgespart; es wird davon
hoffentlich einmal eine Extra-Ausstellung geben. Die Bilder dürfen ganz
für sich wirken, sie werden, wie hier üblich, im Sonderausstellungsraum
schlicht präsentiert: auf weißen Stellwänden mit den minimalen Angaben
Titel, Material, Entstehungszeit, Herkunft ohne weitere
Informationstafeln. Andererseits sollte man die (hier ebenfalls
übliche) gut durchdachte Hängung nicht verkennen, die feine Vernetzung
der Bilder ermöglicht es dem Auge, Bezügen nachzuspüren, Vergleichen
und Kontrasten. Die Reihenfolge ist etwa chronologisch, einige frühe
Bilder, vor 1945, sind in dem Gang links vom Eingang an der rechten (!)
Stellwand zu sehen. Die Spätwerke, darunter ein letztes großes Bild aus
dem letzten Lebensjahr, werden im vorderen Raum an der Eingangshalle
gezeigt - man sollte also nicht versäumen, nach dem Durchwandern des
Sonderausstellungsraums als krönenden Abschluss diese späten Werke, die
viel Tageslicht bekommen, anzuschauen. In Vitrinen sind hier außerdem
einige kleine Werke auf Schieferplatten mit eingeritzten oder schwarz
aufgemalten Vögeln ausgestellt.
Die frühen Werke sind gegenständlich, wenn auch nicht bloß abbildend -
Farben und Formen gewinnen bereits so viel Freiheit, dass sie das
mitschaffende Auge des Betrachters herausfordern, um der Wirklichkeit
nahezukommen: Stillleben, verregnete Stadtlandschaften, ein
Kinderporträt des Sohnes Ulrich, der in der Gegenwart so engagiert an
der Ausstellung mitgearbeitet hat.
Nach dem Kriege aber begibt sich
Emil Schumacher bald konsequent auf den Weg in die Abstraktion:
unmittelbarer Ausdruck der Schöpferkraft des Künstlers, manchmal vom
Material geprägt (Steine, Holz, faltiges Papier; zwei sehr reizvolle
Bleibilder, die wiederum das Bogenthema variieren), manchmal mit
Anklängen an Gegenstände, zur freien Verwendung der Betrachterfantasie,
im Spätwerk zunehmend von Chiffren und Zeichen durchsetzt: angedeutete
Behausungen, die Bögen, Himmelsleitern, halbfertige Tiergestalten,
selten menschenähnliche Wesen. Immer aber: Ausdruckstanz mit dem
Wirkstoff, fast kompromisslos ...
„Es war in der Abstraktion immer der Gegenstand zu erkennen oder
wenigstens zu erahnen“, hat der Künstler 1992 selber kommentiert. „Und
ich sagte mir: Wenn ich Striche zeichne, wenn ich Bewegungen auf die
Leinwand bringe, dann möchte ich, dass sie untermauert sind durch
etwas. Sie sind nicht schlechthin Striche oder Bewegungen, sondern sie
müssen stellvertretend für etwas stehen. Und so bin ich dann wieder,
nachdem ich die der Natur abgewandte Malerei betrieben habe, zur Natur
zurückgekommen, zu den Anfängen.“
Die Titel verrätseln mehr, als dass sie erklären (besser aber als eine
bloße Nummerierung) - wenn man sie laut spricht, versteht man sie am
besten, „einfache“ Klangbilder: „Palau“, „Falacca“, „Adumin“, „Nahum“
beispielsweise. „Helios“ und „Zwiebel“ sind etwas näher am Gegenstand.
Der Erde näher als den Sternen: Trotz des knappen Raums möchte ich mich
einigen Bildern, die mich (u.a.) besonders beeindruckt haben, hier noch
etwas stärker nähern.
„Mit Holz“, 1980, Öl auf Holz - Wie eine Kinderzeichnung wirkt das in
groben weißen Linien auf dunklen Grund skizzierte Haus; in die
Erdgeschosswohnung hineingesetzt sind einige angekohlte Holzstücke: die
ganze Fragilität der Geborgenheit des Erdenlebens in einem einzigen
Bild eingefangen.
„Falacca“, 1989, Öl auf Holz - Das sterbende Pferd in groben schwarzen
Linien auf giftig gelbem Grund ist für mich ein umfassendes Symbolbild
für Umweltprobleme und Naturschutz. Ein persönliches Lieblingsbild ...
„Terrano XV“, 1991, Öl auf Holz - Man kann ja seiner persönlichen Deutung nie sicher sein, ist vielleicht auch gar nicht nötig (gerade
die besten Künstler arbeiten offenlassend-mehrdeutig), aber für mich
sind das zwei Antilopen in afrikanischer Landschaft. Ausdruck der
Liebe, nachdem der aggressive Teil überwunden ist. (Der Biografie ist
zu entnehmen, dass Schumacher bei seinen Reisen Tunesien und Marokko
besucht hat, also afrikanische Landschaften erleben konnte.)
„Die Zwiebel“, 1990, Öl auf Holz - Der rote Korpus, der scheinbar in
den Raum ragt, lässt die Schärfe, die auf den Menschen gesundend wirken
kann, unmittelbar erleben. Man könnte das Bild als vollkommene
Verschmelzung zwischen Pflanzlichem und Tierischem verstehen (wie sie
nur im Menschen möglich ist).
„Helios III“, 1995, Öl auf Leinwand - Der Mensch ist in das Sonnenrad
eingespannt und muss, ja kann sich behaupten, vom Seelenfeuer belebt,
zwischen kosmischer Kraft und trotzender Persönlichkeit.
Den Sternen so nahe wie der Erde; mit den Füßen fest auf dem Boden, mit
dem Scheitel im großen Schicksalszusammenhang: Emil Schumachers Werke,
die uns bleiben, zeugen von einer großen Ichkraft, die sich selten hat
beirren lassen.
„Der Betrachter muss mit dazu beitragen, das Bild zu bilden. Das Bild
ist keine vollendete Tatsache, sondern etwas, das sich stetig
entwickelt, damit es uns zu immer neuen Entdeckungen verhilft. So
definiert sich ein gutes Bild. Es muss jederzeit etwas sagen und die
Intensität der Entstehung widerspiegeln, damit es uns auch später noch
anspricht. Je mehr vom Künstler investiert wurde, um so stärker
profitieren wir als Empfänger davon“ (Emil Schumacher, 1995).
Die Titel der wiedergegebenen Bilder von oben nach unten: B30/1971 (eines der Bogenbilder); "Falacca", 1989; "Terrano XV", 1991; "Die Zwiebel", 1990; "Helios III", 1995.
Die Ausstellung wird im Sprengel-Museum Hannover seit dem 16. Februar
noch bis zum 6. Mai 2007 gezeigt; anschließend 3. Juni bis 30.
September im Museum Wiesbaden. Öffnungszeiten in Hannover Di 10 - 20
Uhr, Mi - So 10 - 18 Uhr. Katalog im Hirmer-Verlag, München, 18 €.
© Text Helge Mücke, Hannover; bei der biografischen Übersicht wurden
die Pressetexte des Sprengel-Museums verwendet. Die Bilder wurden vom
Sprengel-Museum zu Pressezwecken zur Verfügung gestellt, sie sind nicht
frei verfügbar.
© VG-Bild-Kunst, Bonn - Emil Schumacher
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