Gail Jones aus Australien: Literaturfest Niedersachsen der VGH-Stiftung abgeschlossen
Vom Eröffnungsabend des Literaturfestes Niedersachsen habe ich hier berichtet.
Die verschiedenen Veranstaltungen waren über ganz Niedersachsen verteilt. Ein weiterer Abend fand aber in Hannover statt, den habe ich ebenfalls besucht. Es war die vorletzte Veranstaltung des diesjährigen Festes (der Abschlussabend hat einen Tag später in Alfeld stattgefunden).
"Aufbruch": ein Mensch bricht die alten Strukturen auf und bricht zu neuen Ufern auf, ein beliebtes literarisches Thema, die Gesamtüberschrift des diesjährigen Literaturfestes.
Aufbruch ist auch das Thema der australischen Schriftstellerin Gail Jones. Am 27. September (2008) hat sie ihren Roman "Sechzig Lichter" im Literarischen Salon in Hannover vorgestellt. Es war ihr erster Deutschlandbesuch. Bewundernswert finde ich den Aufwand, der hier betrieben wurde - das möchte ich einmal vorweg sagen: Gail Jones selbst, ihre Übersetzerin Conny Lösch, eine Schauspielerin, die den deutschen Text las: Arianne Borbach, eine Simultandolmetscherin (pardon, wenn ich ihren Namen nach Gehör nicht nennen kann) haben kongenial zusammengewirkt! Das allein hat schon einen kräftigen Beifall verdient!
Ein Roman wie ein Fotoalbum soll "Sechzig Lichter" sein - sechzigmal wurde auf die verschiedenste Weise belichtet, mal als Kerzenlicht, mal als greller Blitz oder auf andere Weise der "Er/Beleuchtung". Das ist ein interessantes literarisches Verfahren und hat einen autobiografischen Kreuzungpunkt mit der Hauptfigur: Gail Jones hat eine Zeitlang als Fotografin gearbeitet, wie ihre Hauptfigur Lucy Strange auch. Und die Autorin, so konnte man in dem aufschlussreichen Gespräch nach der Lesung erfahren, hat, weil sie in der Provinz und in einer "bildungsfernen" Familie aufgewachsen ist, ihre frühen Prägungen durch Kinofilme erfahren.
"Wer auszieht, die Welt kennen zu lernen, will sich ein Bild machen von
fremden Völkern, exotischer Natur und landestypischer Architektur. Lucy
Strange betrachtet die Welt mit wachen Augen und viel Liebe zum Detail.
Das Schicksal treibt die junge Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts von
Australien nach Europa, von dort weiter nach Indien und wieder zurück
nach Europa. Was sie auf ihren Reisen sieht, will sie im Bild
festhalten: Die Fotografie wird zu ihrer Leidenschaft" - so beschreibt der Pressetext des Literaturfestes den Roman.
Den Anfang hat Gail Jones in Englisch vorgelesen - schade, dass dieser Teil nicht in der deutschen Übersetzung vorgetragen wurde, denn dieses außerordemtlich grelle Blitzlicht am Anfang ist für die Gesamtkomposition des Romans sehr wichtig, es beginnt mit einem blutigen Unglück (ein Mann fällt in Spiegelglas und verletzt sich tödlich), und nicht jeder (mich eingeschlossen) wird die Feinheiten in der Originalsprache erfasst haben. Als Antwort auf eine Frage Conny Löschs, warum sie denn die Geschichte so grell begonnen habe, macht Gail Jones darauf aufmerksam, dass jedes Foto eine Art Tod bedeute - vor den "frozen moments" hatten in jener frühen Zeit der Fotografie die Menschen geradezu Angst.
Der Vorgabe "Aufbruch" gemäß wurden die Teile vorgetragen, die mit Vorgeschichte Lucy Stranges Schiffsreise nach Indien und die Ankunft dort schildern, Licht Nr. 28 bis 32: Ihr Aufbruch kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass sie auf dem Schiff eine flüchtige Affäre mit einem verheirateten Mann hat; nie hätte sie sich vorher so etwas vorstellen können. Und in Abschnitt 30 entdeckt sie die Bordbibliothek, ein Thema ist auch die Entdeckung des Lesens, auch das mit biografischem Bezug.
Ob es auch eine historische Vorlage zu der Hauptfigur gebe? fragte Conny Lösch im Gesprächsteil weiterhin. Tatsächlich hatte Gail Jones sogar daran gedacht, einen Dokumentarroman, eine Biografie über die Fotografin Julia Margaret Cameron (1815 – 1879) zu schreiben, eine Verwandte Virginia Woolfs (sie war eine Tante der Mutter; Virginia Woolf schilderte in ihrem einzigen Stück "Freshwater" die Lebensgeschichte der Fotografin). (Ich hoffe, meine Recherchen stimmen, denn ich hatte mir nur "eine Verwandte Virginia Woolfs" notiert und bin mit einiger Mühe auf diese Informationen gestoßen. Einen Artikel bei Wikipedia gibt es auch.) So gibt es mit den Stichworten Fotografie und Indien zweifache biografisch-historische Bezüge: zu Julia Margaret Cameron, der Großtante Virginia Woolfs, und zu der Autorin Gail Jones selbst. Das ist aber von mir nicht im geringsten negativ-kritisch gemeint - im Gegenteil: Es ist außerordentlich faszinierend, wie hier die realen Vorlagen einer starken künstlerischen Umarbeitung unterzogen wurden - und allein durch die Form der einzelnen Fotobilder ein hoher Grad an Eigenständigkeit erreicht wird. Es wird auch rasch klar, dass der Blickwinkel "Aufbruch" (den man als typisch weiblich empfinden mag) nur ein Aspekt des Romans ist.
Der Literarische Salon hat die Lesung auch im Rahmen einer eigenen Reihe ins Programm aufgenommen. So gehörte der Abend zu zwei Reihen gleichzeitig: Literaturfest "Aufbruch" der VGH-Stiftung und "Atlas der Literaturen" des Literarischen Salons. Auch dazu passte der Roman! Der Abend begann nach einer kurzen Einleitung mit der Lesung (zunächst die Autorin im Original, dann aus der deutschen Übersetzung); nach einer Pause fand ein ausführliches Gespräch statt, professionell moderiert von der Übersetzerin - am Schluss mit einigen klugen Fragen aus dem Publikum. So führte auch durch die Gestaltung der Abend zu einem runden Bild vom Roman und von der Autorin - dem Literarischen Salon und der VGH-Stiftung ist für diese Bereicherung zu danken.
Der Literaturhinweis: Gail Jones: Sechzig Lichter. Roman. Deutsche Erstausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösch. Edition Nautilus: Hamburg 2008. 224 Seiten, € (D) 19,90
© Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Titelbild des Verlages
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