Ein Brief statt einer Besprechung ...
Liebe Frau Callesen,
sicherlich bin ich wegen der Ausstellung gekommen, neulich am Freitag (7.11.), wollte die letzte Chance nutzen, im "Pavillon", Hannover am Raschplatz, die Werke zu sehen. "Weil Leben mehr als Gestern ist" - so das Thema der Ausstellung, veranstaltet vom Frauennotruf Hannover. Konzeption Gyde Callesen, Lesung bei der Finissage: Gyde Callesen. Bin ich vielleicht auch ein bisschen Ihretwegen gekommen?
Sie haben mich überrascht, Frau Callesen. Nicht während der Lesung, ich höre Ihnen ja nicht zum ersten Mal zu. Hinterher, auf dem Nachhauseweg.
Zum Glück war ich nämlich auf die Idee gekommen, einmal auch ein Buch von Ihnen zu kaufen.
Da saß ich denn nun auf der Rückfahrt in der Straßenbahn und versuchte, Paradiesäpfel anzubeißen - will sagen. blätterte in Ihrem Lyrikband "paradiesäpfel angebissen". Und biss mich fest! (Ich hoffe, Sie verzeihen mir die simplen Bilder; mehr ist mit Journalistenpoesie nicht drin ...)
Immer wieder einmal ist vom lyrischen Ich die Rede. Das lyrische Ich ist in Wahrheit ein lyrisches Du - für mich, den Leser. Am liebsten würde ich, solange ich mich mit den Gedichten beschäftige, "du" sagen, aber das traue ich mich natürlich nicht, ich würde mich aufdrängen ... Wieviel Nähe kann eine dichtende Autorin (ein Autor) durch ihre (seine) Gedichte herstellen? Kommt der Leser (die Leserin) nahe durch die Gedichte selbst? Oder durch die biografischen Notizen: geboren in Flensburg? Oder durch die Sprechweise beim Lesen? "als das lyrische ich noch ich gesagt / und von du gesprochen hatte / bevor das als naiv galt ..." (aus "memoiren des lyrischen ich"). Bin ich eben naiv, na und? "da hatte es noch gedichte gegeben" heißt die Schlusszeile. Zum Glück gibt es trotzdem noch Gedichte. Sie trotzen dem Zeitgeist, werden es immer tun. Gedichte: immer auch ein Mittel des Widerstands.
Widerstand gegen die Selbstvergessenheit z.B. (denn wer "selbstvergessen mit den Worten" spielt, hat doch gleich schon der Selbstvergessenheit widersprochen) (s. "hypothesen"). Oder Widerstand gegen die Dramen ("adagio"), gegen den Unglauben und Falschglauben ("jeden tag begottet"), gegen die Norm-Designer (Titel genau so). Aber nicht nur Widerstand natürlich. Was soll man schon gegen den "pH-Wert" sagen? Fragen an die Landschaft werden gestellt, über die Meerfreiheit wird nachgedacht - vielleicht eine andere, indirekte Form von Widerstand?
Aber vielleicht gehe ich - Ihr lyrisches Du - zu weit, wenn ich gerade diesen Blickpunkt so hervorhebe.
"wirklich, du lebst in kalten zeiten! / das arglose gefühl ist naiv: sehnsucht / deutet auf blindheit hin. der liebende / hat den geist der zeit / nur noch nicht begriffen ..." ("an die nachdichter - frei nach brecht", im Original von Gyde Callesen heißt es aber "ich lebe").
Da ist er wieder, der Geist der Zeit. "was sind das für zeiten / wo ein gedicht über gefühle fast ein verbrechen ist ..." Gut, dass du noch Gefühle hast (finde ich). Und darüber Gedichte schreibst.
Und: muss es immer gleich um Paradiese gehen? Aber nein, es geht ja um Paradiesäpfel. Solche, die zum Sündenfall geführt haben. Und sie werden ja nur angebissen - und dann weggeworfen? Mit Gedichten stehen wir doch immer an der Grenze, balancieren auf ihr, und müssen doch scheitern.
Dieses Scheitern und dennoch Immer-wieder-Neu-Anfangen bringt auch ein Gedicht zum Ausdruck, das ich mein "Lieblingsgedicht" nennen möchte - schlichter Titel "guten abend":
guten abend -
in libellenflügeln gezählt
und vergeblich gesucht
nach einem bild für deren leichtigkeit
hast du schon einmal aufgehört
ein gedicht zu lesen
wegen des schalen gefühls
es gehe um nichts
hast du schon einmal
gefroren in worten und dabei
von libellenflügeln geträumt
wenn du mindestens zweimal
mit ja geantwortet hast
schreibe ein gedicht
im dem es um etwas geht
Danke, Gyde Callesen, für diese Gedichte. Ich fand sie sehr anregend und werde sie weiter bewegen.
Herzliche Grüße - Helge Mücke
Meine Lese-Empfehlung!
gyde callesen: paradiesäpfel angebissen. Wiesenburg: Schweinfurt 2007. 126 Seiten, EUR 16,80
© Text: Helge Mücke, Hannover; Bild: Titelgestaltung des Verlages.
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