"die horen" Nr. 234 - ein Einblick und eine Empfehlung
Ich hatte mir ja mal vorgenommen, hier öfter über "die horen" zu berichten. Beim Vorhaben blieb es bisher, aber heute ist das dran!! (Einen ausführlichen Bericht zu Nr. 222 hatte es hier gegeben.)
Die Ausgabe Nr. 234 ist ein Heft des Rückblicks und Überblicks - zum sechsten Mal bereits geht es nicht vorrangig um die aktuelle Gegenwartsliteratur, sondern um Entdeckungen und Erinnerung an mehr oder weniger Vergessenes: "Vergangen und vergessen - weil's 'zum Lesen nich (mehr) lohnt'?"
Es soll nicht mehr lohnen, von Johann Peter Hebel zu lesen? Oder in den "Canterbury Tales" von Geoffrey Chaucer? Wer auf solche Texte hinweist, meint das Gegenteil und will zum Wieder- oder Neu-Entdecken einladen. Schubart, Henriette Davidis - große frühe Kochbuch- und Bestsellerautorin! -, Wilhelm Busch, Wilhelm Busch in Arno Schmidt gespiegelt, Werner Kraft, Ernst Jünger, V.O. Stomps, Günter Bruno Fuchs, Jürg Federspiel - die Bandbreite ist groß, die Aufzählung noch unvollständig. Viele Schicksale, die aufleuchten.
Meine erste kleine Entdeckung das Gedicht "Verwandlung" von Christa Reinig (1926 - 2008): "Ich wandle unter meinen händen / den tisch den Teller und das brot ... ich danke allen starken dingen / mein herz ging strahlend in sie ein / es ging als wucht sie zu bezwingen / und kam als weisheit sie zu sein ..." Es steht isoliert auf S. 7, eine Art Introitus, vielleicht auch nur ein Lückenfüller gleich nach dem Einleitungstext, anderswo wohl Editorial genannt, von Johann P. Tammen und Heiko Postma. Verwandlung der Alltagsdinge mit Herzenskraft so, dass man so weise wird, zu sein wie sie.
Aber ein bisschen habe ich damit schon vorgegriffen, denn vorher gibt es, wie in jedem Heft der "Horen", die "Marginalien" (S. 2). Besonders beeindruckt hat mich das Zitat von Friedrich Schiller: "In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten." Müsste viel mehr beherzigt werden - oder wollen Sie Ihren Geist einschränken lassen?
Und nun diese Verse: "Wenn der April mit seinen Schauern mild / Durch Märzesdürre bis zur Wurzel quillt / Und badet jede Ader in dem Saft / Dass Blumen sprießen auf durch diese Kraft ... / Dann kriegt der Mensch auf eine Wallfahrt Lust ..." Vor über 600 Jahren (in mittelenglischer Sprache) geschrieben, von Geoffrey Chaucer, der ca. 1340 bis 1400 gelebt hat. Heiko Postma macht uns ausführlich die "Canterbury Tales" schmackhaft - mit Erfolg, bei mir zumindest, ich wäre sonst nie auf die Idee gekommen, mich damit zu befassen. Erstaunlich modern klingt vieles - so auch "Chaucer's Klage an seine Geldbörse": "Dich, Börse, der kein andres Wesen gleicht, / Beklag ich, du bist meine Dame hehr! / Ich bin so traurig, nun, da du so leicht ..."
Eien weitere Entdeckung war für mich der Aufsatz Martin Lowskys über Nebenfiguren in den Romanen von Storm, Fontane und Karl May: "Menschen, die verblüffen". Das ist doch einmal eine interessante Aufgabe, in bekannten Geschichten nach solchen Nebenfiguren zu suchen und sich zu fragen, warum sie eingeführt wurden. Hermann Rost in Karl Mays "Weihnacht!" ist homöopathischer Arzt - er vertritt ein ganzheitliches Denken und kann als früher Vorläufer der "Generation Praktikum" gedeutet werden. Gideon Franke in Fontanes "Irrungen, Wirrungen" ist in der Welt der Konversation ("Über jedes kann man ja was sagen") die Gegenfigur mit "fachlichem Wissen, Welterfahrung und präzisen Vorstellungen". Und Trien' Jans im "Schimmelreiter" von Storm ist der schärfste Gegner des Deichprojekts; im Gegensatz zum rationalen Hauke Haien beurteilt sie die Verletzung der Natur, für die die Begriffe fehlen, aus tiefem Glauben und Aberglauben. So sind die Nebenfiguren oft die Träger alternativer Gedanken und Modelle - und weisen damit am stärksten in die Zukunft.
Mehrere Artikel befassen sich mit dem großen "Klein-"Verleger V.O. Stomps und seinem Umkreis. Dem entstammen übrigens auch die meisten Illustrationen in diesem "Horen"-Band. Tatsächlich, er hat es gesagt: "Bücher verkauft man doch nicht, sonst hat man sie ja nicht mehr." Zu dem Umkreis gehört auch Günter Bruno Fuchs, dem Thomas Schaefer einen eigenen Aufsatz widmet. "Der Fortschritt", diktiert er seinem Kind ins Schulheft, "hat keene Lust, sich / zu kümmern um / mir. Und wat mir anjeht, habick / keene Lust, mir um den Fortschritt zu kümmern. Denn / unsereins / war ja / als Mensch wohl zuerst da."
Und schließlich komme ich noch auf meine zuletzt zu nennende Entdeckung zu sprechen: Werner Kraft (dann habe ich Ihnen genug vor-erzählt). "Wort aus der Leere" ist die Lesefassung eines NDR-Radiofeatures von Georg Oswald Cott (er hatte Kraft 1990 noch in Jerusalem besucht, viele Gespräche mitgeschnitten, bevor Kraft im Juni 1991 95-jährig verstarb). In den Marginalien schon wird von Kraft zitiert (aus "Spiegelung der Jugend"): "Nicht in Coimbra fand ich 1927 eine Anstellung als Bibliothekar, sondern in Hannover. Sie war lebenslänglich und hörte 1933 auf ..." Ein (nicht nur rühmlicher) Bezug zu Hannover! Das u.a. erfahre ich aus Cotts Feature: Kraft hat 1966 "Gespräche mit Martin Buber" veröffentlicht. Ich habe probiert, es antiquarisch zu bekommen - tatsächlich, zu meiner großen Freude liegt das Büchlein jetzt auf meinem Schreibtisch.
Und das wiederum ist ein gutes Beispiel dafür, worin der eigentliche Wert der "horen" liegt: Man denkt weiter, um und neu; man vernetzt in seinem Hirn Nah- und Fernliegendes, Altes und Neues, und manchmal auch ein bisschen realiter. "die horen" als Gesundungsmittel und Jungbrunnen ...
Probieren Sie es aus, lesen Sie selber!: Einzelpreis dieses Doppelbandes 14 Euro, Jahresabo 36 Euro.
Abbildung Titelbild der Ausgabe Nr. 234. Mehr Infos (auch das Inhaltsverzeichnis) - wie sollte es heute anders sein - auf der Seite die-horen.de
© Autor dieses Textes: Dr. Helge Mücke, Hannover
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