Das war ein schöner Auftakt und für mich eine freudige Wiederbegegnung: Im Raum 2, "Menschenbilder", kommt mir sofort Paula Modersohn-Beckers Blick vor die Augen, das "Selbstbildnis mit Kamelienzweig" von 1906/1907, zu dem sich die Malerin nach dem intensiven Studium ägyptischer Mumienporträts im Louvre hatte anregen lassen. Es gehörte schon einmal dem Museum Folkwang, bevor die Nazis es 1937 als "entartet" beschlagnahmten, und gehört ihm wieder, denn es konnte 1957 zurückgekauft werden. (2007/08 war es in Bremen zusammen mit echten Mumienporträts gezeigt worden; mein Bericht in "Die Drei" und das Bild lassen sich noch hier ansehen.)
Dieses Selbstbildnis der Worpsweder Malerin Paula Modersohn-Becker scheint mir wie ein Schlüsselbild für die wunderbare Ausstellung, wegen seiner Geschichte und wegen seines weit gespannten Bogens bis hin zum alten Ägypten. Das "schönste Museum der Welt" gab es einmal und gibt es ein bisschen wieder während der Sonderausstellung, denn man hat aus aller Welt viele der Werke wieder zusammengetragen, die es vor 1937 hier gegeben hatte.
So zum Beispiel sah es einmal aus:
(c) Museum Folkwang, 2010, Fotografie: Albert Renger-Patzsch
Zu sehen sind Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck, im Hintergrund an der Wand Franz Marcs "Weidende Pferde IV" - das publikumswirksame titelgebende Werk der jetzigen Ausstellung, ich werde es später zeigen. Sie werden hoffentlich erkennen, wie "entartet" die Werke hier alle sind!?
"Das schönste Museum der Welt" hatte Paul J. Sachs, einer der Begründer des MoMA New York, das Museum Folkwang nach einem Besuch 1932 genannt. Karl Ernst Osthaus hatte die Sammlung in Hagen begonnen, nach seinem Tod 1922 war sie nach Essen gewandert und wurde von Ernst Gosebruch weiter gepflegt - den die Nazis 1937 einfach absetzten. Es war damals schon ein umfassendes Museum, das außer Gemälden und Zeichnungen und Skulpturen auch völkerkundliche Objekte zeigte. "Das ... universalistische, von ästhetischen Kriterien bestimmte Museumskonzept wird in dieser Ausstellung wieder aufgegriffen und neu interpretiert", heißt es im Kurzführer.
Nehmen Sie sich viel Zeit (mit Pause), um die Ausstellung zu besichtigen - die große Bandbreite macht es noch anstrengender als bei anderen Sonderschauen. Eine erschöpfende Beschreibung ist hier natürlich nicht möglich, ich werde einige Werke hervorheben, die mich besonders angesprochen oder beeindruckt haben (in Klammern die Raumnummer); nur wenige kann ich hier zeigen.
Der erste Raum stellt die Geschichte in Wandtexten dar, über den zweiten Raum - dem ersten, in dem Werke gezeigt werden - habe ich bereits gesprochen. Den Auftakt mit Menschenbildern - Selbstbildnissen - zu gestalten, finde ich eine gute Idee; denn genau das war es ja, was in der Nazizeit massiv unterdrückt wurde: das Menschenbild vom einzelnen freien Menschen. Das Selbstbild ist immer auch ein inszeniertes Selbstbild; das gilt besonders für den "Frühling" von Ferdinand Hodler. Und Marc Chagalls "Purimfest" von 1916-18 gleitet gar ins traumhaft Szenische hinüber.
Marc Chagall :Das Purimfest, 1916–1918, Philadelphia Museum of Modern Art, The Louis E. Stern Collection, 1963 © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 / Foto: Graydon Wood
Vincent van Gogh malte oft den Arleser Postmeister und seine Familie; das Porträt des Sohnes Armand - ein Beispiel der Klassiker der Moderne (3) - fällt durch seine ausgesprochene Farbigkeit und Farbwahl auf, die gelbe Jacke und der Hintergrund in Veroneser Grün müssen seinerzeit (1888) provokant gewirkt haben. Der nächste Raum (4), in dem Gemälde zweier Künstler - André Derain und Henri Matisse - mit größeren Skulpturen aus der Zeit der Jahrhundertwende (Rodin, Rosso, Maillol, Minne, Lehmbruck), die ein neues Menschenbild vertreten, zusammen betrachtet werden können, führt zu einem aufatmenden Gefühl der Großartigkeit. Eine Entdeckung von besonderer Schönheit aber war ein maskenartig gestaltetes Gesicht: "Maske" von Moissey (Moishe) Kogan, um 1910 entstanden, Museum Folkwang - es erinnerte sehr stark an die japanischen Nô
-Masken an anderer Stelle, der Einfluss ist unverkennbar. (Schade, dass ich sie hier nicht zeigen kann; ich hätte versuchen sollen, eine Skizze anzufertigen.)
Beispiele japanischer Theatermasken für das klassische Nô-Theater werden passend im nächsten Raum gezeigt (5). Diese hier ist ebenfalls von beeindruckender Schönheit:
Deme Kogenkyû Mitsunaga (gest. 1672) oder Deme Tôhaku Mitsutaka
(gest. 1715), Deigan, Gesichtsmaske für das Nô-Theater, 17. Jh. (c)
Museum Folkwang, 2010; Foto: Hans Hansen
Die ausgestellten "Gaben für das Jenseits" (6, 7) - koptische Textilien vom 3. bis 8. Jahrhundert; dann Skulpturen, Gefäße, Amulette aus Ägypten und dem Vorderen Orient - rufen vor allem Bewunderung für die hohe Kunstfertigkeit hervor: Lange standen wir vor den erhaltenen Tuchfragmenten der Kopten-Christen - wie nur kann man so etwas weben?
Welch wundervollen lichtdurchfluteten Birkenwald konnte - in der Erbschaft des Impressionismus (8) - Christian Rohlfs (1907) malen, so hatte ich ihn noch gar nicht gekannt. Er war - so steht es im Kurzführer - mit dem Museum Folkwang auf besondere Weise verbunden gewesen, denn Osthaus hatte ihm in Hagen ein Atelier zur Verfügung gestellt (1901).
Paul Cézanne: Der Steinbruch Bibémus - La carrière de Bibémus, Museum
Folkwang, Essen
© Museum Folkwang; Foto: Jens Nober 2009
In einem weiteren Raum der "klassischen Moderne" (9) wird dieses Cézanne-Gemälde mit seinen kubistisch anmutenden, ineinander geschachtelten Strukturen mit mehren Gauguins und drei Landschaften van Goghs verbunden. Man wird angeregt, über Bezüge und Kontraste nachzudenken.
Dann darf das Auge sich wieder bei völkerkundlichen Objekten erholen: islamische Schalen, Töpfe und Fliesen (10), ozeanische Zeremonialobjekte (11), Keramik- und Lackarbeiten aus China, Japan, Korea (12), javanische (Schatten-)Spielfiguren (13) demonstrieren ein weiteres Mal die ungeheure Bandbreite des "schönsten Museums der Welt".
Franz Marc: Weidende Pferde IV (Die roten Pferde), 1911, Harvard
Art Museum, Busch-Reisinger Museum, Promised Gift from an Anonymous
Donor
© President and Fellows of Harvard College / Foto: Rick
Stafford
Der Expressionismus nimmt dann einen besonders großen Raum ein (14, 15). Endlich also die Pferde von Marc, an denen man sich satt gesehen haben mag (durch Reproduktionen) - doch gibt es hier beides: Vertrautes und Neuentdeckungen. Von Ernst Ludwig Kirchner ein merkwürdig dusteres Bild von "Fünf Frauen auf der Straße"; christliche Motive von Emil Nolde, so ein neunteiliger Christus-Altar; und vor allem, eine wirkliche Entdeckung für mich: von Edvard Munch eine "düster aufgeladene Landschaft" (wie es im Kurzführer heißt), ein Winterbild, das eine große Ruhe ausstrahlt. Ich habe schon viele Bilder von Edvard Munch gesehen, aber dieses war eine echte Überraschung!
Abschließend wird noch die "abgebrochene Moderne" (16) angedeutet: Entwürfe für Wandbildprojekte von Oskar Schlemmer und Ernst Ludwig Kirchner, die nicht mehr zur Ausführung kamen ...
Den Besuch der Ausstellung möchte ich sehr empfehlen - das Museum Folkwang hätte das "schönste Museum der Welt" werden (bleiben) können!
Noch bis zum 25. Juli 2010 dienstags bis sonntags von 10 bis 20 Uhr, freitags von 10 bis 24 Uhr. Weitere Informationen hier: http://www.dasschoenstemuseumderwelt.de/
(C) Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; die Bilder wurden als Pressefotos vom Museum Folkwang zur Verfügung gestellt - sie sind nicht frei verfügbar (Hinweise unter den einzelnen Bildern beachten)
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