Der Choreographenwettbewerb findet in Hannover immer im Rahmen der Ostertanztage statt. Ich hatte hier schon einen kurzen Zwischenbericht eingesetzt, Sie haben ihn vielleicht gelesen. In diesem Jahr war es der 25. Choreographenwettbewerb, also silbernes Jubiläum!
Besucht habe ich die beiden Vorrunden, sodass ich das gesamte Spektrum wahrnehmen konnte - es hat mich auch dieses Mal beeindruckt.Trotzdem muss ich sagen - so originell wie im vorigen Jahr war es nicht, da gab es mehr ungewöhnliche Ansätze. 170 Bewerbungen aus 45 Nationen hatte es diesmal gegeben; davon waren 15 für die beiden Vorrunden ausgewählt worden (neben dem Titel wie immer mit Buchstaben bezeichnet).
Um es vorweg zu sagen: den 1. Preis und den Scapino-Produktionspreis bekam der Albaner Gentian Doda, der freiberuflich arbeitet. Ich möchte hier aber nach den Buchstaben vorgehen und ein paar Bemerkungen einfließen lassen - ich versuche, eine passende Frage zu stellen, wie ich es bei meinem Zwischenbericht angefangen habe.
Wodurch bekommt man (als Frau) seinen Rang in der Gesellschaft: etwa durch Muskeln oder etwa ganz im Gegensatz durch Anmut? So ähnlich hatte ich hier schon gefragt. Die Choreographie "Mishiki" des Brasilianers Moriel Debi von der Staatsoper Hannover hatte mich dazu angeregt. (A)
Was ist erreichbar, was unerreichbar? Die Frage wird durch den doppelsinnigen Titel suggeriert: "Un/Attainable" vom Italiener Giuseppe Spota (Staatstheater Wiesbaden). Die beiden Männer geben mit ihrem manchmal vom Schmerz gezeichneten dynamischen Ausdruckstanz (Bild oben von Alexander Spiering) natürlich keine letztgültige Antwort darauf - am Schluss versucht der eine den "Berg" zu erklimmen (den senkrecht gestellten Quader; auch hier die Einfachheit der Requisite überzeugend), der andere befreit sich offenbar durch einen gewaltigen Schlusssprung. Diese Choreographie bekam den 2. Preis (B).
Lässt sich Harmonie aus der Nicht-Bewegung entwickeln oder stört Dynamik sie eher, sprengt Dynamik in jedem Fall den Rahmen? Die vier Tänzer begannen bäuchlings am Boden und bewegten manchmal nur Körperteile: den Kopf, die Schultern - bei rascher Musik. "In a Frame of Reference" (C) der Taiwanesin Fang-Yu Shen, Studentin der Folkwangschule Essen, bekam den Kritikerpreis. Faszinierend durch Temporeichtum und Präzision.
Kann eine geflüsterte Geschichte wahr sein? Denn "The Story We Tell" von Michal Rynia und Nastja Bremec (Polen und Slowenien, freiberuflich) (D) ist ein Gerücht, eine Einflüsterung - ein interessanter Ansatz, wenn auch sicher nicht ganz neu. Erst flüstert der Mann der Frau etwas zu, sie wehrt zunächst ab, ihr Interesse wandelt sich aber. Später vertauschen sich die Rollen.
In Kostümen, mit Requisiten aus der Vergangenheit, muss das gleich witzig werden? Das glaube ich nicht, der Humor aus der Gegenwart wäre meiner bescheidenen Meinung nach überzeugender. Von der Decke hing ein Grammophon, das pantomimisch angekurbelt wurde. Dr Martin aus Israel (Freiberufler) hat diesen Weg gewählt. Er selbst und die Tänzerin Oran Nahum übernahmen die Darstellung "Bitterfly" (E) (nach dem verwendeten Musiktitel benannt) (sollte damit das mythische insektenähnliche Wesen, das nur Magier sehen können, gemeint sein, gab es dazu keinen Bezug).
Wie klingt Feuer? Das hatte den Choreographen Liew Jin Pin (noch Student der Folkwangschule Essen) aus Malaysia interessiert, statt einer Musik verwendete er eigene Aufnahmen von Feuergeräuschen. Pardon, daraus hätte sich viel mehr machen lassen - die beiden Tänzer (der Choreograph selbst und Roberta Petti) haben nicht für mich erkennbaren Bezug hergestellt. "Gone" der Titel (F).
Variantenreiche Musik für Violine solo - Paganinis Caprice No. 24 -, dazu präziser Tanz eines Paares - reicht das für Innovation? Offenbar nicht. Trotzdem bekam der Beitrag (G) von Guillaume Côté aus Kanada (Kanadisches Nationalballett) mit dem Titel "No. 24" den 3. Preis.
"What if ...?" (H) - ja, was kann man noch tun, wenn ringsum Schüsse knallen? So könnte der Titel aufgefasst werden. Am Anfang liegt sie auf dem Boden, er hockt bei ihr: am Schluss trägt er sie auf dem Rücken fort. Sehr dynamisch getanzt. Der Spanier Blazquez von der Staatsoper Hannover hat choreographiert und mit Nao Takuhashi zusammen getanzt.
Wie viel Süße verträgt eine Beziehung, oder ist die sowieso nur Schein, der bald vergeht? Er in weißem Anzug behandelt sie wie eine Puppe, die Abwehr kommt rasch. Die Choreographie des Weißrussen Anton Zvir (Nationalballett Marseille) , der selber mit Fanny Barrouquère getanzt hat, zu einfachen Pianotönen ("Quiet Music" von Nico Muhly), habe ich persönlich als sehr differenziert erlebt: "Sweet?" hieß das Stück (I).
Er fläzt sich auf dem Sofa, sie sitzt darauf - aber was kann man schon machen auf einem Sofa? Wo landet eine solche Beziehung? Auf Dauer nicht tragfähig ... Oder kann man sich davon befreien? Wieder ein Paartanz, hier mit dem ungarischen Choreographen Dávid Miklos Kerényi (Ungarisches Nationalballett) und Kinga Varga. "BIN-JIP" (J) der Titel, wie die Musik.
Und was alles kann im Traum geschehen? Manchmal geht es so skurril zu wie hier (man stopft sich Papier in den Mund, Styroporkugeln regnen auf die Bühne) - aber nicht einmal im Traum denkt man vorher daran: "Ni en sueños" nennt Noémie Ettlin aus der Schweiz (Nationalballett Marseille) ihre Choreographie (K).
Wo sind Licht und Schatten und was machen sie mit uns? "State of Matter" (L), die Choreographie des Engländers Ihsam Rustem vom Luzerner Theater, hat verständlicherweise den Publikumspreis bekommen. Schon die Musik, die ich als "spirituell" notiert habe, strahlt Faszination aus. Aber es strahlen auch Störgeräusche ein. Anfangs sieht man von oben herabhängend eine Teil-Leinwand, unter der sich erst Beine bewegen, später ein Kopf herabpendelt. Dann tanzen bis zu sieben Tänzerinnen und Tänzer vor einer großen Leinwand, die so beleuchtet ist, dass teilweise nur ihre scharfen Schatten erscheinen (s. Bild). Der Zustand hängt vom Licht ab. Faszinierend.
1/2 Waltz (M) aber hat am meisten überzeugt, der Albaner Gention Doda (freiberuflich) hat dafür den 1. Preis bekommen. Was ist gut, was ist böse? Die uralte Frage seit dem Sündenfall ... Zwei Männer begegnen einander, aber wer ist des anderen Schatten oder Doppelgänger? Schon am Boden liegend beginnen die beiden Männer sich rhythmisch zu bewegen; der heitere, rasche Musettewalzer geht ins Blut. Lila gekleidet der böse Versucher, der andere im weißen Hemd.
Was jedoch findet sich auf dem Grund des Ozeans? Wer weiß ... Fünf Männer mit nacktem Oberkörper, grell von oben beleuchtet, müssen ihre Aggressionen aufbrauchen. "Ocean's Five" (N) hat der Ungar Timea Maday Kinga (Freiberufler) choreographiert.
Und wer gewinnt gegen den Stier? Eine der fünf rot gekleideten Frauen vielleicht, die sich immer wieder aufsplittern und vereinen? Der zweite Albaner, Erion Kruja, vom Stadttheater Bern setzt den Schlusspunkt mit "Grit" (O).
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; alle Fotos von Alexander Spiering - sie wurden von der Ballettgesellschaft Hannover als Pressefotos zur Verfügung gestellt und sind nicht frei verfügbar.
Ausdruckstanz ist sehr interessant und lässt soviel Freiraum für Interpretationen. Da wäre ich gerne dabei gewesen, aber leider habe ich es verpasst.
Kommentiert von: Irene | 18. Mai 11 um 16:54 Uhr