"Es ist so vieles nicht gemalt worden, vielleicht alles", schrieb Rainer Maria Rilke in seinem "Worpswede"-Büchlein (1903, Bielefeld u. Leipzig, Velhagen & Klasing). Schließlich wurde auch er nicht gemalt - in dem berühmten großen Worpswede-Gemälde "Das Konzert" (auch "Sommerabend") von Heinrich Vogeler mit den meisten Künstlerinnen und Künstlern der Gründergeneration, vollendet 1905, kommt der Dichter nicht vor. Klaus Modick hat in seinem Roman von 2015 dieses Motiv zum Ausgangspunkt gemacht. "Konzert ohne Dichter" sei ein Werk der Fiktion, sagt der Autor in einer Note am Schluss - und nennt dann die Quellen: Rilkes Werke, Tagebücher, Briefe und Vogelers fragmentarische Lebenserinnerungen "Werden". "Inwieweit diese Quellen Tatsachen wiedergeben", so Modick, "oder bereits literarisch konstruiert sind, sei dahingestellt". Das ist die eine Ebene des vergnüglich zu lesenden Romans: das Spiel zwischen Wirklichkeit und Schein, Wahrnehmung und Darstellung.
Als ich den Roman an einem milden Winterabend (am 2. Weihnachtsfeiertag) zu Ende las, hatte ich das Erlebnis einer gestaffelten Wahrnehmung - "das Bild hinter dem Bild hinter dem Bild ... usw.": Ich lese in dem Buch von Modick, das punktförmig von meiner Leselampe beleuchtet wird; von meinem inneren Licht beleuchtet, aus der Erinnerung, entsteht vor meinen inneren Augen das Vogelerbild "Das Konzert" oder "Sommerabend"; es wird gerade - in dem Roman - an der hinteren Wand im Vogeler-Pavillon zum ersten Mal ausgestellt, 310 x 175 cm, 1909 in Oldenburg; dahinter in meinem Wohnraum die vier brennenden Kerzen zwischen den Fichtenzweigen auf der flachen Obstschale; dahinter mein großes Fenster mit schwach angedeuteter Spiegelung; dahinter der Blick auf den Himmel von einer seltsamen Klarheit - es ist windig - mit einigen hellblauen Wolkenstreifen. "Wie kann man", fragt sich Vogeler in Gedanken - er schaut das Bild u.a. mit den beiden kunstkundigen Mäzenen Roselius und Francksen an - "ein Bild nur so gründlich missverstehen? Statt der Traurigkeit sehen alle nur die Idylle, die heile Welt, nicht deren Verlust, weil alle entschlossen sind, die Wirklichkeit hinter schönem Schein zu verbergen ..."
Einige Wolken bekommen schon rosafarbige Ränder; bis dahin ist Modick bei der überraschenden Hochzeit Rilkes mit Clara Westhoff, im April 1901, ein Rückblick also - vorher war Rilke immer wieder mit beiden "Malweibern" zusammen gewesen, eine skandalöse Dreiecksbeziehung: mit Clara (mehr Bildhauerin) und Paula Becker, die jetzt enttäuscht ist und einen Monat später Otto Modersohn heiratet. Es gebe zwei Arten von Malerinnen, wurde in jener Zeit gewitzelt: Die einen möchten heiraten, und die anderen haben auch kein Talent" - als Künstlerinnen waren Clara und Paula in der Zeit nicht anerkannt. Vogeler "überarbeitete das Bild. Um Paula deutlich von Rilke zu trennen, setzt er Marthas Freundin Agnes Wulff zwischen die beiden ... Und Paulas Lächeln veränderte er zu stiller Resignation. Er trat von der Leinwand ein paar Schritte zurück und fragte sich, ob Rilke, dessen Anwesenheit das Bild inspiriert hatte, überhaupt noch in dies Bild gehörte".
Inzwischen haben die Wolken violette Ränder und ein dunkles Blau mit leicht rötlicher Tönung bekommen. Die Westerweder Idylle, die Rilke anfangs durchaus gefallen hatte - das bitterarme, aber glückliche Künstlerpaar, das in dem bescheidenen Häuschen freudig sein Kind erwartet - verdunkelte sich bereits wieder, sie sollte nur ein Jahr währen, Rilkes zwanghafte Reiselust bricht auf, und er dichtet den Abgesang: "In diesem Dorfe steht das letzte Haus / so einsam wie das letzte Haus der Welt. / Die Straße, die das Dorf nicht hält, / geht langsam weiter in die Nacht hinaus. / Das kleine Dorf ist nur ein Übergang / zwischen zwei Welten, ahnungsvoll und bang, / ... Und die das Dorf verlassen, wandern lang, / und viele sterben vielleicht unterwegs." "Am nächsten Morgen (nach einem Kurzbesuch Rilkes) schnitt das Winterlicht frostig und klar ins Atelier. Vogeler löschte Rilke aus dem Bild und ließ Modersohn dichter an Paula herantreten. Der Platz neben Clara blieb leer."
Draußen ist es ganz dunkel geworden. Vogeler hatte versucht, das Bild von Roselius zurückzukaufen (der hatte es "auf dem Halm" gekauft, also, bevor es fertig war), mit der Absicht, es zu vernichten - vergeblich, Roselius erklärte es für unverkäuflich. "Obwohl Vogeler mit einer Abfuhr gerechnet hat", schreibt Modick, "ist er wütend. Immer schon hat Roselius ihn behandelt wie einen exotischen Schoßhund. Und den hat er mit Knochen gefüttert, in der Hoffnung, dass das Fell des bunten Hunds die Farbe seines Zwingers annehmen möge. So kann es nicht weitergehen. So kann er nicht weitermachen ... Ein Spaziergang wird ihn beruhigen ... Ein älterer Mann in blauer Arbeitskluft schichtet Komposthaufen um. Der dunkle, würzige Waldduft von Humus flutet als unsichtbare Wolke über den Hof. Vogeler bleibt stehen. 'Moin, moin', sagt er. Der Alte blickt auf, stützt sich auf die Forke. 'Moin ok'. 'Kompost mööt man gaut plegen, nich?' 'Jau.' Der Alte nickt. 'Na, denn man tau', sagt Vogeler, während der Alte die Forke in den Haufen sticht."
Eine Seite weiter ist der Roman zu Ende. Inzwischen ist es still geworden, die Nacht des letzten Weihnachtstages angebrochen. Vogeler wird neue, ganz andere Wege gehen. Weg von der Idylle ins tätige Leben (nachzulesen bei Wikipedia).
Fasziniert hat mich an dem Roman, wie Modick es versteht, bildhaft - dem Gegenstand angemessen - zu schreiben oder überhaupt sinnenhaft, denn es beginnt mit Höreindrücken: "Getuschel. Traumreste. Klatschende Flügelschläge. Wer spricht? ... Er steht auf, zieht den nachtblauen Morgenrock an, halb japanischer Kimono, halb mittelalterliches Adelsgewand ..." Die schwierige Freundschaft zwischen Vogeler und Rilke, beider ebenso schwieriges Verhältnis zu den Frauen der KünstlerInnen-Kolonie, wird sehr anschaulich vor Augen geführt. Geschickt konzentriert Modick die Handlung auf die drei Tage, bis Vogeler die Goldmedaille für Kunst und Wissenschaft verliehen bekommt, entsprechend die Kapitelüberschriften: Worpswede 7. Juni 1905 - Von Bremen nach Oldenburg 8. Juni 1905 - Oldenburg 9. Juni 1905. Mit vielen Rückblenden. Ein lesenswertes Buch auch deshalb, weil Klaus Modick auch Kompliziertes, Tiefsinniges mit einer bewundenswerten Leichtigkeit, von feinem Humor durchzogen, schildert.
Klaus Modick: Konzert ohne Dichter. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2015. 240 Seiten, 17,99 EUR
Grafik: Titelgestaltung des Verlages
Das Bild "Das Konzert" ist übrigens hier zu sehen: http://www.kunstkopie.de/a/vogeler-heinrich/sommerabend-am-barkenhof.html
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