"Lust auf Pflanzenkost" ist eines der faszinierendsten Ernährungsbücher mit Rezepten, das ich je in die Hände bekommen habe! Das sage ich mal vorweg, damit es nicht falsch verstanden wird, wenn ich trotzdem das eine oder andere anzumerken habe. Schon der Titel könnte auf eine falsche Fährte führen ... denn es ist kein reines Vegetarierbuch.
Hätte Jürgen Piquardt mich als Lektor um Rat gefragt, hätte ich ihm wahrscheinlich von diesen Titeln abgeraten - denn, genau genommen, hat das Buch drei Titel (Sie sehen es auf dem Bild). Complementismus steht an erster Stelle, ist aber wohl nicht der Haupttitel (und jede/r fragt sich gleich: Was ist denn das?); die Aufforderung "Lust auf Pflanzenkost" an zweiter Stelle erscheint als Haupttitel, die Schriftgestaltung suggeriert es; und dann gibt es noch einen langen Untertitel: "Pfadefinder zu einer individuell-ganzheitlichen Ernährung".
Ich hätte ihm auch von solch einem dicken Buch abgeraten -- sechshundertacht Seiten!
Ich hätte ihm auch davon abgeraten, das alles in ein einziges Buch hineinzupacken! Eine Übersicht über Ernährungstheorien - die Darstellung von Karnismus / Vegetarismus / Veganismus - die Darstellung des Complementismus - und dann noch das Buch im Buch, eine vegane Kochfibel mit Rezepten (gut allerdings, dass es diesen praktischen Teil gibt!) - ganz abgesehen von verschiedenen Anhängen und Ergänzungen. Und die vielen Zitate (grau unterlegt).
Ich hätte ihm wahrscheinlich auch abgeraten, sooo oft das auffordernde Wort "Wir" zu benutzen.
Außerdem hätte ich ihm möglicherweise davon abgeraten, das Werk so einfach zu illustrieren, ganz ohne Farbfotos - zugegeben, das lässt den Verkaufspreis im erschwinglichen Rahmen.
Aber Jürgen Piquardt hat mich nicht um Rat gefragt - und er hätte sicher auch nicht auf mich gehört. Gut so! sage ich bei dem Ergebnis - obgleich: Ein leichtes Buch ist es nicht geworden! Jürgen Piquardt macht eben alles ANDERS. Er hat den Mut besessen, SEINEN Weg zu gehen, SEINEN Stil durchzuhalten. Es ist ein sehr anregendes, geistreiches, oft auch streitbares Buch geworden -- kurzum: ein pralles Lebenswerk!
Der Autor wird mich hoffentlich nicht steinigen, wenn ich trotz alledem auf Mängel aufmerksam mache: Das Register könnte besser sein. Wenn ich meine Gemüsekiste vom Kampfelder Hof bekommen habe, möchte ich Antwort auf die Frage finden: Was kann ich mit dem Produkt anfangen, das ich gerade vorgefunden habe - z.B. Wirsing oder Pastinaken? Beide Stichwörter finde ich nicht, ich kann nur über "Kohlfamilie" oder "Wurzelfamilie" auf eine Übersicht (S. 232) stoßen, werde aber nicht zu Wirsing-Quiche-Küchlein als warme Vorspeise (S. 516) geführt (ein Rezept mit Pastinaken habe ich noch nicht entdeckt; der Wirsingkohl fehlt in der Übersicht). Wer herausfinden möchte, was Complementismus oder Complementarismus ist, dem empfehle ich nicht, über das Register zu gehen (wo etliche Seitenzahlen genannt sind), sondern das Inhaltsverzeichnis vorne zu benutzen - das ist wegen der starken Gliederung des Buches aufschlussreich. In dem Abschnitt über Gewürze (ab S. 263) fehlt der Schabzigerklee, den ich gerne benutze - aber der Autor bezeichnet seine Liste ja als unvollständig ...
Complementismus übrigens ist ein vom Autor erfundener Begriff: Er bezeichnet damit "Pflanzenkost mit Ergänzungen -- "Samen, Pflanzen, Früchte, Nüsse, Pilze. Und als gelegentliche Ergänzungen Milch, Milchprodukte, Eier, Fleisch vom Tier und Fisch" (S. 39).
Meiner Meinung nach gibt es "nur" einen Weg, sich diesem Buch anzunähern, mit ihm umzugehen: darin schmökern! Immer wenn ich das gemacht habe, habe ich große Freude empfunden und mit Begeisterung etwas zubereitet und genossen. Nein, bitte nicht zu ernst nehmen - natürlich gibt es verschiedene Wege, ich spreche nur von meinen Erfahrungen ...
Ich wünsche jeder, jedem viel Vergnügen mit diesem fruchtbaren Buch und die Fähigkeit, einen möglichst großen Teil der Anregungen in die Tat umzusetzen!
Jürgen Piquardt: COMPLEMENTISMUS –LUST AUF PFLANZENKOST Pfadefinder zu einer individuell-ganzheitlichen Ernährung. G5 Netz Verlag für nachhaltiges Leben, F-83670 BARJOLS 2017, 608 S., Preis: 22,50 €. http://www.g5netz-verlag.de/index.php
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Umschlaggestaltung des Verlages.
Lieber Jürgen, danke für die weiterführenden Gedanken. Weil vielleicht nicht jede/r, die/der den Kommentar liest, den Bezug versteht, wiederhole ich hier das Zitat, mit dem ich meine Mails abschließe:
„Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt“
(Mahatma Gandhi)
Gewiss, für heute wäre das Ich wohl angemessener, als Imperativ an sich selber ...
"Wir" finde ich schwieriger. Bekannt sind die Beispiele aus der Pflege - "nun wollen wir mal die Strümpfe anziehen" oder so. In Peter Härtlings letztem Buch, das ich gerade für "Die Drei" besprochen habe, fragt die Hauptperson (der Autor) zurück: "Wie, Sie auch?".
Aber das Ich ist auch nicht einfach, die Grenze zu Egozentrik und Egoismus ist fließend. Mit dem Du habe ich als Halb-Norweger weniger Probleme - es kommt, auf den Tonfall an. Stichwortartig: Kommunikation als ein Lebensthema bei mir, von Martin Buber im menschlichen Bereich bis zu den Menschenaffen im vor-menschlichen. Hier ist natürlich nur eine verkürzte Antwort möglich. Ebenso herzliche Grüße zurück in Richtung France (Provence) - Helge
Kommentiert von: Helge | 15. Dezember 19 um 16:27 Uhr
Lieber Helge Mücke,
ich komme zurück auf das Du, das Wir und das ICH.
Immer wieder, und fast nur so, besteht die Aufgabe, beim Wunsch "Weiterkommen", sich selbst anzusprechen.
Und immer wieder stellt uns die mangelhafte Nutzung unserer,meiner Sprache vor oft nicht lösbare, zum richtigen Zeitpunkt, Aufgaben.
Das ist keine Klage. Die Sprache kann ja nichts dafür. Und der Anreiz ist gross, beim Verständigen untereinander, mit mir selbst, über die Sprache hinauszukommen.
Aber nun etwas konkreter:
Wie spreche im mich, Dich, uns am Überzeugendsten an? Ich war als Kind ein romantischer Sozialist. Und versuche, mir diese Bilder zu erhalten. Also: Wir! / Da habe ich ein Pamphlet geschrieben, im Jahre 2o11, als Reaktion auf Stephan Hessels Streitschrift "Empört Euch" ( also wir, die anderen ). Ich habe den Titel gebraucht: "Erkenne Dich! Und handle!". Diesen Titel gäbe es heute nicht mehr, von mir.
Und nun, zum Ausgangspunkt dieser langen Nachri cht: Helge Mücke benutzt, auf schönste Art, einen unserer wichtigen, für unsere Generation, Altvorderen, Muhathma Gandhi mit folgendem schönen, auffordenden Spruch: Sei DU selbst ...
aber, aber , aber, übersetzt ins Heute, müßte er nicht nun heißen: Sei ICH selbst die Veränderung,die ich mir wünsche für diese ( meine) Welt.
....
Ich freue mich sehr auf die Reaktion... ich, du, wir, Sie
ganz herzliche Grüße Richtung Allemagne Jürgen
Kommentiert von: jürgen piquardt | 14. Dezember 19 um 11:50 Uhr
Danke für den Antwort-Kommentar. Wenn Heiterkeit rübergekommen ist, bin ich zufrieden ... Ernährung der Seele, ja, da bin ich einverstanden.
Kommentiert von: Helge Mücke | 09. Dezember 19 um 19:27 Uhr