Über die Schnelllebigkeit oder Kurzlebigkeit der heutigen Gegenwartsliteratur ist schon viel geschrieben worden -- dem brauche ich nichts hinzuzufügen. Es scheint mir aber sinnvoll, auf das eine oder andere "ältere" Werk noch einmal hinzuweisen, weil das Nachlesen oder Neu-Lesen sich lohnt. "Max" von Markus Orths ist erst drei Jahre alt und droht schon in Vergessenheit zu geraten; dabei ist es künstlerisch gesehen eines der beachtenswerten Bücher (Hardcover 2017 bei Hanser, 2020 bei btb als Taschenbuch).
Der Roman mit dem schlichten Titel berichtet auf indirekte Art vom Leben eines der größten Bildenden Künstler des vorigen Jahrhunderts, von Max Ernst, der immerhin fast 95 Jahre alt wurde (1891-1976). Statt von Max Ernst selbst erzählt Markus Orths aber von den sechs Frauen, die im Leben des Künstlers eine wichtige Rolle gespielt haben -- ein genialer Kunstgriff. Sie zählen selber zu den großen Frauen des Jahrhunderts, sie sind selber Künstlerin oder auf andere Weise mit der Kunst verbunden -- nach ihnen sind die Kapitel des Romans eingeteilt: Lou (Luise Straus-Ernst), Galapaul (Gala Éluard Dalí), Marie-Berthe (Auranche), Leonora (Carrington), Peggy (Guggenheim) und Dorothea (Tanning). Maxens erste Ehefrau Lou arbeitete als Kunsthistorikerin und Journalistin; die Jüdin wurde 1944 in Auschwitz ermordet, was Max erfolglos zu verhindern versuchte (s. fembio). Gala war die Künstlermuse der Zeit, verheiratet mit Paul Éluard und später Salvador Dalí. Die Malerin Marie-Berthe wird als überspannte Kindfrau und später frömmelnde Katholikin geschildert. Mit Leonora Carrington lebte Max Ernst im südfranzösischen Exil zusammen; sie war wohl seine große Liebe, bestand aber auf ihrer künstlerischen Eigenständigkeit, wollte später auch nicht mehr nur mit Max Ernst in Verbindung gebracht werden, den sie weit überlebte (1917-2011). Verheiratet war Max auch mit der exzentrischen Mäzenin Peggy Guggenheim; mit der die Flucht in die USA gelang. 1946 schon schloss er seine vierte und letzte Ehe mit Dorothea Tanning. Max Ernst war "dreiunddreißig Jahre lang von Frau zu Frau gestürzt ... Jetzt aber schien Max genug zu haben. Von seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr bis zu seinem Tod würde er dreiunddreißig Jahre lang bei einer einzigen Frau bleiben. Und Dorothea bei ihm" (S. 566 bei Orths). Mit Dorothea Tanning zusammen lebte Max Ernst wie ein Aussteiger in Sedona, Arizona, und zeitweise als angesehener Künstler in Paris. Zwischenbemerkung: Werke der Künstlerinnen Leonora Carrington und Dorothea Tanning waren 2020 in der Ausstellung "Fantastische Frauen" in der Frankfurter Schirn zu sehen (s. hier).
Die trockene Zusammenfassung lässt nicht erkennen, worin nach meiner Meinung die besondere Qualität des Romans von Markus Orths besteht: Er schreibt szenisch und versetzt damit die Leserin, den Leser mitten hinein in das Geschehen. Besonders pfiffig finde ich den Prolog am Anfang - und besonders berührend die Sterbeszene in Gegenwart von Dorothea. Er stirbt einen Tag vor seinem 85. Geburtstag.
Ich zitiere abschließend den Rückseitentext: "Im Spiegel von sechs Frauenleben erzählt dieser Roman vom 20. Jahrhundert und entwirft das Panorama einer wahnwitzigen Zeit. Max kämpft. Max flieht. Max sucht. Er kämpft gegen die Verrücktheit einer Welt, die aus den Fugen gerät. Er flieht vor den Menschen, die ihn nicht verstehen. Er sucht die eine Frau, die er wirklich lieben kann. Dies ist die Geschichte eines großen Künstlers des vergangenen Jahrhunderts: Max Ernst."
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Umschlaggestaltung des Verlages; Hinweis auf eine weitere Rezension von Anja Beisiegel.
Markus Orths: Max. Roman. Carl Hanser: München 2017. 576 Seiten, 24,00 EUR.
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