Dieses Buch ist eine Fundgrube - ich benutze den abgenutzten Begriff, denn es ist wirklich eine Fundgrube. Solche analogen Werke sind heute nur durch Teamarbeit und internationale Zusammenarbeit möglich (und wenn, wie bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschft (wbg), eine starke Mitgliedschaft dahintersteht). Mehr als 550 Seiten, über 500 Farbabbildungen, Karten und Zeichnungen - das dürfte reichen, um z.B. eine Corona-Quarantäne zu überstehen ...
Herausgeber*innen sind Eszter Bánffy, Kerstin P. Hofmann und Philipp Rummel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Archäologischen Institut.
"Spuren sind Vergangenes in der Gegenwart, die uns über Zukünftiges nachdenken lassen", so beginnt das angenehm kurze Vorwort. In der ausführlicheren Einleitung (S. 9-55) wird ein historischer Abriss des Fachs gegeben und deutlich vermittelt, dass die gegenwärtige Situation neu ist. "In den letzten Jahren hat sich die Archäologie erheblich verändert - sie bezieht eine Fülle natur-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Methoden mit ein und erforscht inzwischen alle Epochen vom Beginn der Menschheit bis in die Jetztzeit."
Der weitere Text mit den Bildern ist - wie sollte es anders sein - chronologisch geordnet: Alt- und Mittelsteinzeit, Jungsteinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, Römische Kaiserzeit und Völkerwanderung, Mittelalter und Neuzeit. Den Abschluss bilden ein Kapitel über "Kulturelles Erbe und Wissenstransfer" sowie ein praktischer und sorgfältig edierter Anhang mit Orts- und Fundplatzregister, Bildnachweis und Ausgewählter Literatur. Den Kapiteln sind Farben zugeordnet, die auf dem Vorderschnitt als Griffmarkierung erscheinen.
Das war eine viel zu trockene Aufzählung, die dem Buch überhaupt nicht gerecht wird - in Wirklichkeit ist dies ein Werk zum lustvollen Darin-Blättern - es lädt zum Stöbern und Entdecken ein! Ich kann hier nur ein paar Beispiele schildern, willkürlich und subjektiv.
Schon auf einer der ersten Seiten spricht mich ein Gesicht an mit einer tiefen Innenschau bei geschlossenen Lidern, meditativ, von unglaublicher Schönheit, dreidimensional (S. 6). Zu meiner Verblüffung lese ich am Rand, dass es gar kein richtig altes Werk ist - sondern eine lange verschollene Skulptur der Klassischen Moderne, Fragment einer "Schwangeren" von Emy Roeder, deren Kunst in der Nazizeit als "entartet" galt. Es hieß, die Künstlerin habe sich gerne von prähistorischer Kunst inspirieren lassen. Die Figur war bei Ausgrabungen vor dem Roten Rathaus in Berlin (wieder-)entdeckt worden. Auch das erfordert Archäologie".
Zum Grundsätzlichen (S. 24): "Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte liegen keine Schriftquellen vor, und auch eine Beobachtung der zu untersuchenden Menschen ist nicht möglich. Die Archäologie ist daher angewiesen auf die Interpretation materieller Dinge und Spuren, die sich aufgrund unterschiedlicher Erhaltungs- und Überlieferungsbedingungen heute mehr oder minder gut finden bzw. dokumentieren lassen".
"Fenster zur Welt" sind beispielhafte Kapitel immer wieder überschrieben. Etwa: Drohnen über Nagaland. Drohnen werden längst zur Erkundung und Dokumentation aus der Luft eingesetzt. Von den Großsteinanlagen (aus Menhiren) in Manipur, Nagaland und Megalaya wurde mit Hilfe von Drohnen aus vielen Fotos ein dreidimensionales Bild angefertigt (S. 40/41) (3D-Fotogrammetrie).
"Homo sapiens -- Revolution oder Evolution?" wird in einem Abschnitt gefragt. Das Bild dazu zeigt beeindruckende Schädel, die schon im 19. Jahrhundert entdeckt worden waren, etwa 35.000 Jahre alt, aus den Mladeč-Höhlen,Tschechien (Aurignac-Kultur) (S.67).
"Parallelgesellschaften vor 6000 Jahren?", fragt ein anderes "Fenster zur Welt". Schädel in der Blätterhöhle bei Hagen belegen offenbar, dass es zwei Gruppen von Menschen gab, die nach genetischen Analysen auf Nachfahren der Bauern einerseits und der späten Jäger-Sammler andererseits zurückgehen (S. 107).
Ein wunderschönes Foto zeigt die Himmelsscheibe von Nebra zusammen mit Begleitfunden, die eine Datierung in die ausgehende Frühbronzezeit ermöglichen (S. 177).
Verblüfft hat mich eine bronzene Geldbörse (in die 50 Münzen passten), die aus dem Oppidum von Manching (Pfaffenhofen, Oberbayern) geborgen werden konnte (S. 243).
Geheimnisvoll wirkt eine fast menschenhohe Kultfigur von der Fischerinsel im Tollensesee südlich Neubrandenburg (slawischer Herkunft); sie stellt eine doppelköpfige Gottheit dar: unter den langen Nasen sitzt jeweils ein gegabelter Schnauzbart, der bis über das Kinn hinabreicht (S. 364).
Ein gutes Beispiel für den Zusammenklang von Ästhetik und Zweckform ist ein Schiff im Wikingermuseum in Haithabu bei Schleswig (S. 378).
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Durchblättern und vertieften Lesen und empfehle das Werk sehr.
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