Brücken über die alte Grenze?
Zu einem „Klassenbuch“ der Schillerschule Weimar –
22 Lebensgeschichten der DDR-Nachkriegsgeneration
Da liegt es wieder auf meinem Schreibtisch. Nicht zum ersten Mal und bestimmt auch nicht zum letzten Mal. Es ist kein Buch, das sich zum flüchtigen Schmökern in einem Rutsch eignet. Wer es versucht, wird bald erkennen, dass dieses Buch mehr Aufmerksamkeit verlangt und verdient. 22 Lebensgeschichten: jede ein ganzer Kosmos für sich. Überspitzt gesagt: Stoff für 22 Romane. 22-mal Aufmerksamkeit für einen Lebenslauf, das ist anstrengend – es ist geradezu eine Schule der Aufmerksamkeit, eine Anleitung zum meditativen Lesen.
Ich kenne kein ähnliches Prosawerk, das so realitätsnah einen lebendigen Eindruck vom Leben in der DDR vemittelt – und so vielfältig nach Stil und Inhalt. Jede Schülerin, jeder Schüler der Gegenwart sollte deshalb dieses Buch kennen – gleich, ob im Westen oder im Osten!
50 Jahre nach dem Abitur und 10 Jahre nach der Wiedervereinigung haben die beiden Herausgeber – Jürgen Piquardt und Günther Drommer – ihren ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern die Aufgabe gestellt, wie einst einen Klassenaufsatz zu schreiben. Eine große Bandbreite ist dabei herausgekommen. Übereinstimmend sei jedoch das Gefühl, so der Rückseitentext, „dass die angestammten Bundesrepublikdeutschen, die Gewinner des 'Kalten Kriegs' nicht verständnis- oder gar liebevoll-'brüderlich' mit ihnen umgegangen sind. Viel Seelenleid hätte verhindert werden können. Aber zum Trost, und das belegen die Aufsätze: ein gutes Leben, ein erfülltes Leben ist … überall möglich gewesen, egal ob im 'Osten' oder im 'Westen', egal ob 'Oben' oder 'Unten' ...“
Ich zitiere an dieser Stelle Jürgen Piquardt aus seinem Geleitwort (S. 14 f.): „Einige Lebensberichte im Klassenbuch sind beschämende Beispiele für das mangelhafte Einfühlungsvermögen der AbwicklerInnen: Die Degradierung eines LPG (Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft)-Vorsitzenden zum 'Stallknecht', ohne vorher hinterfragt zu haben, welche Anerkennung für sein Handeln und welche Zuneigung zu ihm in seinem 'Arbeitsumfeld' vorhanden war. Die Folge: Suizid. Und: einige hundert Menschen bei seiner Beerdigung. Die Entlassung aus dem Schuldienst wegen eines besonders beeindruckenden Lehrerlebenslaufs, der von den westdeutschen CharakterkontrolleurInnen schnurstracks als 'linientreu' ausgelegt wurde. Dieser 'Fall' ist glücklich ausgegangen, aber welches Leid zwischendurch...“
Natürlich habe ich mich auch gefragt, ob ich überhaupt der geeignete Kritiker für dieses Buch bin. Als „Wessi“ sollte ich mich mit „Kritik“ (im negativen Sinne) eher zurückhalten, doch konnte ich meine typischen Fragen auch nicht ganz unterdrücken, vor allem: Was steht zwischen den Zeilen? Wie stark ist bei einigen die Schönfärberei? Wieviel Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit (auch sich selbst gegenüber) ist in den einzelnen Beiträgen? War der Zusammenhalt in der Klasse wirklich so stark, wie es von den meisten beschrieben wird? Meine Antwort ist: Das kann doch jede Leserin, jeder Leser selbst herausfinden. Der individuellen Darstellung steht die individuelle Lesart gegenüber – es ist nicht meine Aufgabe, solche Entscheidungen zu treffen; mit Wertungen dieser Art kann ich mich zurückhalten.
In zwei Fällen gelingt es mir aber nicht, emotionslos zu bleiben. Großen Respekt habe ich vor der Verwandten (der Schwester) des LPG-Vorsitzenden, der nach der Wende Selbstmord begangen hat; sie hat sich über die persönliche Betroffenheit hinweggesetzt und an seiner Stelle einen Beitrag zum Klassenbuch verfasst. Und dann: Es muss auch in dieser positiv geschätzten Klassengemeinschaft einen IM gegeben haben. D.L. schreibt am Schluss seines Klassenaufsatzes: „Zum Glück habe ich ja alles gut überstanden. Diese Zeilen musste ich aber loswerden. Ich hoffe, dass der Klassenkamerad es auch liest. Ich glaube zu wissen, wer es war.“ D.L. hatte beim Klassentreffen Pfingsten 1989 mit einer Bemerkung das Ende der DDR vorausgesagt; man könne dann das nächste Klassentreffen überall stattfinden lassen, auch im Westen. Diese Anmerkung war Grund genug, über ihn eine Operativakte anzulegen, was er erst nach der Wende in der Gauck-Behörde erfahren konnte. „Ich hatte allerdings“, schreibt D.L., „nicht eingeplant dass einer unserer Klassenkameraden ein drittes Ohr hat“.
Ich skizziere beispielhaft noch einige weitere Beiträge, damit die Vielfalt noch etwas deutlicher wird. (Im Gegensatz zum Buch gebe ich hier außer bei den Herausgebern nicht die vollen Klarnamen wieder.) Karin H. erinnert an das Treffen, das im September 2005 bei Jürgen Piquardt in Südfrankreich stattgefunden hat – der immer wieder eingeladen hatte, auch schon zu DDR-Zeiten. Fast die ganze 12B3 war nach Minguinelle gefahren – zu einem Fest für alle Sinne in großartiger Natur, „eine Erholung für die Seele“. R.H. beschreibt seinen Lebenslauf anhand der vielen Umzüge – 23 müssen es wohl gewesen sein. Nach der Wende entdeckt er in der Gauck-Behörde, dass sein Onkel, dem er vertraut hatte, sein IM gewesen war. Typisch ist das Leugnungs- und Rechtfertigungsmuster, das er erlebt, als er seinen Onkel und seinen Vater mit den Tatsachen konfrontiert. „Ich weine der DDR keine Träne nach“ – so überschreibt L.M. seinen Klassenaufsatz. Sein Bericht ist auch ein Fluchtbericht. Mit guter Vorbereitung und sehr viel Glück war ihm die Flucht über den Griebnitzsee gelungen (1 Tag später wurden die Alarmanlagen dort in Betrieb genommen, dann wäre keine Chance mehr gewesen.) Es gibt unter den Aufsätzen aber auch das andere Extrem: eine erfolgreiche DDR-Karriere ohne Fluchtgedanken, nahtloser Übergang in das BRD-Berufsleben. Christa B. war zur landwirtschaftlich-technischen Assistentin, Spezialrichtung Biologie, ausgebildet worden und hatte zuletzt, ab 1966, eine Stelle an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität, die sie bis zum Beginn der Rentenzeit 2001 beibehalten konnte. „An der Humboldt-Universität“, schreibt sie, „erweiterte sich nach der Wende mein Betätigungsfeld sehr. In verschiedenen Bereichen flexibel zu sein bereitete mir viel Freude. Dankbar war ich, dass ich auch nach dem Ende der DDR nicht unter Arbeitslosigkeit zu leiden hatte.“
Die Beispiele mögen genügen. „Klasse 12B3“ ist ein wichtiges Buch, das geeignet ist, zum Überbrücken noch bestehender Gräben einen Beitrag zu leisten. Ich empfehle die Lektüre sehr.
Das Buch kann im Buchhandel oder direkt beim Verlag bestellt werden, http://www.g5netz-verlag.de/, Mail: [email protected] Tel. 00 33 494 77 10 32
Günther Drommer, Jürgen Piquardt (Hrsg.): Klasse 12B3 der Schillerschule in Weimar. 22 Lebensgeschichten der DDR-Nachkriegsgeneration. 60 Jahre, 1959-2019. G5-Netz-Verlag: Minguinelle 2020 (2. Aufl.).
Dieser Beitrag lädt zum Lesen ein und weckt die Neugier auf dieses Werk, HERZlichen Dank. C. M.
Kommentiert von: C. M. | 17. Juni 21 um 07:12 Uhr