Auch wer tief mit Anthroposophie vetraut ist, wird bei diesem Titel der beliebten Rudolf-Steiner- Auswahlbände (Erstauflage 2021) womöglich ratlos ausgesehen haben, denn ungewöhnlich an diesem Auswahlband ist, dass er sich nicht einem bestimmten Sachgebiet zuwendet, sondern einer Methode: Was mag das sein, »organisches« Denken? Ein Denken, das in gleitendem Übergang das eine aus dem anderen entwickelt, organisch eben? Bei Rudolf Steiner selbst kommt der Begriff kaum vor, verrät der Herausgeber zu Beginn des letzten Kapitels: "Nur im Vortrag vom 26. November 1921 spricht er (Rudolf Steiner) explizit von einem ›organisch-morphologischen Denken‹, das sich ›in lebendigem Wachstum selber fortbildet‹; der Begriff ist ihm synonym für das imaginative, gestaltende Denken, dessen Ausbildung die erste Stufe zu höherer Erkenntnis ist. Es ist die erste Stufe hin zu einer Erkenntnis des Geistigen der Welt (S. 253)".
Die einprägsamste Begriffsbestimmung hat der Herausgeber Renatus Derbidge gleich zu Anfang formuliert : »Organisches Denken ist ein Denken, das dem Lebendigen gerecht wird und es erlaubt das Seelisch-Geistige in der Welt, in Natur und Mensch wahrzunehmen und einzubeziehen. Es zielt auf Wesenserkenntnis ab.« (S. 7) Zur Abgrenzung wird an anderer Stelle Rudolf Steiner zitiert: »In der unorganischen Welt herrscht Wechselwirkung der Teile einer Erscheinungsreihe, gegenseitiges Bedingtsein der Glieder derselben durch einander. In der organischen ist dies nicht derFall. Hier bestimmt nicht ein Glied eines Wesens das andere, sondern das Ganze (die Idee) bedingt jedes Einzelne aus sich selbst, seinem eigenen Wesen gemäß.« ("Entelechie" bei Goethe) (S. 36).
Es ist bewundernswert, wie der Herausgeber aus einer großen Textfülle heraus (über 250 Seiten in der Taschenbuch-Ausgabe) eine kluge Wegleitung geschaffen hat, die sehr hilfreich sein kann – gerade, wenn es darum geht, andere Menschen neu für Anthroposophie zu interessieren, und dennoch frei zu lassen. Renatus Derbidge beginnt mit einer ausführlichen Einleitung (S. 7-16), die für sich zu lesen schon erkenntnis-gewinnbringend ist. Danach folgen in zwölf Kapiteln eine klug geordnete Auswahl aus umfassender Kenntnis heraus; erhellende Einleitungen und Kommentare zu den verschiedenen Textauszügen, die durch die typografische Gestaltung leicht erkennbar sind; und schließlich eine gelungene Abrundung durch ein Kapitel, das zum Tätigwerden einlädt. Die zentralen Kapitel beleuchten die Fruchtbarkeit des organischen Denkens in den verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen, »in einem Kaleidoskop von Beispielen« (S. 16), wie Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit, insozialen oder in ökonomischen Zusammenhängen. Am Ende der Textsammlung steht »zum besseren Verständnis des Schulungsweges des imaginativen, organischen Denkens exemplarisch eine ausführliche Passage aus einem Vortrag über den Schulungsweg der Rosenkreuzer«, denn dieser »wirft nochmals einen Blick auf die Natur, denn sie ist die größte Schulmeisterin für ein organisches, lebendiges, imaginatives Denken« (S. 254).
Bewundernswert ist alleine schon die editorische Leistung des Herausgebers. Alle zitierten Abschnitte aus Rudolf Steiners Werken sind im Anhang genau nachgewiesen (vgl. 263 ff.). In einem Quellenverzeichnis sind alle Bände der Gesamtausgabe (GA) aufgeführt, aus denen zitiert wurde oder die erwähnt wurden (vgl. S.261 ff.).
Rudolf Steiner: ›Organisches Denken‹, herausgegeben und kommentiert von Renatus Derbidge,
Rudolf Steiner Verlag, Basel 2021, 268 Seiten, 19,90 EUR
Sehr empfehlenswert!
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