Muss Lyrik vollkommen verständlich sein? Ist es ein Qualitätsmerkmal von Lyrik, dass sie rätselhaft und unverständlich ist? „Nein, zweifaches „Nein“. Gute Lyrik hat mehrere Verständnis-Ebenen, eine vordergründige, die jede, jeder auf Anhieb verstehen kann; dahinter eine zweite, eine Deutungsebene, die sich nicht unmittelbar erschließt; und es darf auch ein Rätsel übrig bleiben. Daniela Danz aber treibt es in ihren Gedichten, meine ich, zu weit mit ihrer Unverständlichkeit. Ich mochte sie deshalb zunächst nicht und habe die Sammlung „Pontus“ erst einmal beiseite gelegt. Jetzt, beim erneuten Lesen, habe ich mehr Zugang gefunden. Immerhin gibt es einen Anmerkungsteil. Zu Danilo, der öfter vorkommt, heißt es „ukrainischer Märchenheld“; seine Geschichte wird an einer Stelle auch erzählt – er ist der dreifache Pechvogel, also eigentlich ein Antiheld, doch ein Tier hilft ihm, eine Schlange, aus Dankbarkeit, einst hatte er sie gerettet. Was aber bedeutet diese Zeile: „danilo kippt die gewaltige Mulde seines KRAS hoch und reißt dabei das stromkabel runter ...“? Dazu wird nichts erklärt. Ich habe auch mit einer Suchmaschine nicht herausfinden können, was „KRAS“ ist – es gibt eine Kras-Ebene, die aber liegt in Slowenien, nach anderen Angaben in Kroatien (und die Bezeichnung für Mutationen, die bei der Krebsdiagnose eine Bedeutung haben). Schon der Titel „Pontus“ bedarf der Erklärung – Pontus Euxinus sei ein Name für das Schwarze Meer, wird im Anmerkungsteil erläutert.
Doch genug der Vorbehalte. Daniela Danz ist eine gute Beobachterin und findet einleuchtende Bilder, die über sich hinausweisen – in dieser Sammlung oft ins Mythische. Das geht nicht ohne Hintergrundwissen oder Erklärung. Ihr Augenmerk richtet sich immer wieder auf Grenzen – Grenzen können trennen, aber auch verbinden; manchmal sind sie nur für Privilegierte durchlässig. „diese Fähre müssen wir nehmen, wenn wir im Schutz / unserer Pässe reisen wollen … man muss den gleichen Azurfaden für Himmel und / Meer nehmen es gibt keine Grenze dazwischen / sagt träumend Danilo wir beide schweigen ich weiß / was du sagen willst: … bei uns schätzt man die Grenzen und nennt sie peras / und meint: von woher etwas sein Wesen beginnt / ...Danilo hält unsere Verse für bare Versprechen / und will mit uns zurück nach Kolchis das an Holz Flachs / und Hanf reiche Land // durch die Schleusen aber kommt er nicht mit gefälschten / und auch nicht mit echten Papieren nur unsere Danae in den / Büchern hats leicht – sie zieht mich zu sich heran und sagt: / du kannst nicht für andere traurig sein denn für dich / ist der Regen diesseits wie jenseits der Grenze derselbe“ (aus „Gobelin“ im Abschnitt „Der genaue Ort“, S. 32 f. mit größeren Auslassungen). Im Klappentext heißt es etwas allgemeiner: „Daniela Danz befragt die Bruchstellen: von Tradition und Moderne, von Europa und Orient, von Wasser und Land“. Das Augenmerk auf Grenzen oder Bruchstellen mag biografische Hintergründe haben, sie sagt es selber (im Vortext zu „Album amicorum“): „die grenze – das war in meiner kindheit nichts allgemeines sondern ein eigenname: der eiserne vorhang … nun da er weg ist der vorhang ließe es sich gemütlich auf dem dach der geschichte sitzen und dem hangeln an den traufkanten zusehen. z.b. danilo den wir an dem armen ziehen damit er den aufschwung schafft währed russland an seinen beinen hängt (S. 51). Und etwas später schlägt sie den Bogen zurück zum titelgebenden Pontus, der Schwarzmeer-Region: „danilos körper ist weit wie der des pontus doch wir können innehalten mitten in der weite und in danilos landschaft hineingehen bei seinen menschen wohnen. der pontus ist für uns unterschiedslos … der pontus selbst ist die grenze. eine riesige grenze aus nichts aus wasser und unseren gedanken ...“ Daniela Danz wurde 1976 in Eisenach geboren und lebt heute in Kranichfeld bei Weimar.
„Pontus“ ist bereits 2009 erschienen. Um herauszufinden, was die Autorin danach gemacht hat, habe ich eine Suchmaschine bemüht. Wie sich zeigt, hat sie eine erstaunliche Entwicklung gemacht – von den fernen Mythen hin zu der Natur vor der Tür, um es vereinfacht zu sagen. „Wildniß“ heißt ihr neuester Gedichtband (2020). Im Netz ist dazu ein Interview des MDR zu finden, unter der Überschrift „Wie die Thüringer Autorin Daniela Danz gegen die Klimakrise kämpft“– ich zitiere hier den Eingangstext:
„Mit dem Gedichtband 'Wildniß' hat die Thüringer Schriftstellerin Daniela Danz für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Unter anderem erhielt sie dafür den Deutschen Preis für Nature Wirting. Inzwischen lebt die Autorin selbst naturnah im Weimarer Land in Kranichfeld. Vorher studierte sie Deutsche Literatur in Tübingen, Prag und Berlin. Seit 2021 leitet sie den Bundeswettbewerb 'Demokratisch Handeln' (ein bundesweiter Kinder- und Jugendwettbewerb) und ist seit 2021 Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften. In Ihren Texten beschäftigt sie sich jedoch nicht nur mit Natur, sondern auch mit der Beziehung des Menschen zur Umwelt.“
Den Gedichtausschnitt, der in der schriftlichen Fassung des Interviews als Beispiel wiedergegeben wird, zitiere ich hier ebenfalls:
„Komm Wildnis in unsere Häuser / zerbrich die Fenster komm / mit deinen Wurzeln und Würmern / überwuchere unsere Wünsche / Mülltrennungssysteme Prothesen
und Zahlungsverpflichtungen … (Aus: "Komm Wildnis in unsere Häuser" von Daniela Danz)
Dazu fragt Carsten Tesch für MDR KULTUR:
„Sie schreiben die Natur selbst an, fordern die Natur auf. Aber ist die Natur nicht taub für unsere Worte?
Wir sind taub, nicht die Natur!“
Solche Perspektivwechsel wie hier, fanden sich auch schon in „Pontus“ - „verweisen sie (menschen in der landschaft) auf die über sie hinweggehende geschichte oder verweist die geschichte auf sie?“ heißt es gegen Anfang von“Album amicorum“ (S. 49).
Abschließend noch ein Zitat aus dem Interview: „Sie fordern die Wildnis auf, über uns zu kommen. Wünschen Sie sich manchmal, dass die Natur zurückschlägt?
Das kann man sich gar nicht wünschen, denn das ginge gegen den Menschen. Aber was Kunst kann, ist eine gewisse Radikalität herzustellen. Und Radikalität bräuchte man jetzt zumindest im Denken, um den Klimaschutz mit allem, was daran hängt, auch umzusetzen.“
Weitere Informationen hier.
Daniela Danz: Pontus. Gedichte. 78 Seiten, EUR 14,90. Wallstein: Göttingen 2009.
Daniela Danz: Wildniß. Gedichte. 86 Seiten, EUR 18,00. Wallstein: Göttingen 2020.
Letzte Kommentare