Diesmal empfehle ich einen Krimi. Es ist aber kein Krimi der seichten Sorte, vielmehr ein gut recherchierter Tatsachenroman, der vielleicht der Wahrheit näherkommt als so manches Sachbuch. Mobbing in der Schule ist das erzählerisch verarbeitete Thema. Mobbing, das als Cybermobbing, virtuell beginnt und körperlich endet. Der Titel lässt das nicht ohne weiteres erkennen – er spielt darauf an, dass die „pädagogische Provinz“ Schule kein Schonraum ist, sondern immer auch gesellschaftliche Probleme widerspiegelt. Vorbei mit der Utopie, falls es sie je gab (das „Utopia“ des Thomas Morus, 1516 veröffentlicht, hat es in der Realität nie gegeben). Talitha, die Triebfeder des Mobbings erklärt es so: „Das Leben ist nun mal nicht heile Welt. Utopia war gestern, heute ist WoM … Welt ohne Mitleid. Jeder gegen jeden eben, normal … Oder für Sie als Biolehrerin: Der Stärkere überlebt …“
Die Geschichte: Maria Brehm ist Biologielehrerin – sie leitet einen Leistungskurs – und zugleich Vertrauenslehrerin für rund 2000 Schülerinnen und Schüler. Sie lebt alleine mit ihren Tieren, dem Husky Pawlow, der Katze Darwin; zu ihrem persönlichen Umkreis gehören eine zeitweise beste Freundin Lisa, deren Sohn Felix im frühen Grundschulalter und ein guter Freund, Robert, der sie beim Umgang mit dem Computer unterstützt.
Seit drei Tagen ist die Schülerin Jana aus dem Biologiekurs verschwunden – was außer Maria niemanden zu interessieren scheint. Wie sich herausstellt, lebt Jana gerade mit ihrem Bruder alleine, weil ihre Eltern sich in China aufhalten, um dort ein wichtiges Geschäft einzufädeln. Doch wo ist sie?
Soweit die äußeren Tatsachen – die inneren Gründe für das Verschwinden schälen sich erst allmählich heraus. Seit Monaten wird Jana, die durch Zuzug erst spät auf diese Schule gekommen ist, massivem Mobbing ausgesetzt – in der Schule und im Internet. Wortführerin ist Talitha, die schon beim ersten Gespräch den oben zitierten Standpunkt klarlegt – purer Darwinismus, den ihre Lehrerin nicht vertritt. Um mehr herauszufinden, wenden Maria und Robert selbst Mittel der Jugendlichen an, die sie missbilligen. Robert stellt sich unter falschem Namen als neuer Schüler vor und verbreitet aus Angeberei einen Film, in dem der Hund der Lehrerin vergiftet wird. Diesen Film haben Maria und Robert als Fake hergestellt - sie ahnen nicht, dass sie die tödliche Gefahr für Jana und Talitha damit verstärken … Es kommt zu einem dramatischen Schlusspunkt, über den hier nichts verraten wird. Schließlich ist es ein Krimi!
Was ich hier als durchgehenden Erzählfaden zusammengefasst habe, ist in Wirklichkeit ein raffiniertes Geflecht aus verschiedenen Blickwinkeln, Hin- und Her-Bezügen, Spiegelungen und Widerspiegelungen. Durch ihre Montagetechnik kann die Autorin unterschiedliche Sichtweisen einbringen; Auszüge aus einem Tagebuch von Jana, einmal auch von Talitha, unterbrechen die Schilderung der Ereignisse. Maria ist nie von Zweifeln frei, sie spricht dann mit ihren inneren Stimmen. Die Personen, vor allem Maria, sind differenziert gezeichnet, dadurch wirken sie besonders glaubwürdig. Wie in der Wirklichkeit auch, gibt es überall Beziehungsprobleme, auch in diesem Umfeld war Utopia gestern! Lisa und Maria hatten miteinander eine kurze lesbische Affäre, die sie noch nicht ganz verkraftet haben. Maria hatte aus Kindheit und Jugend selber negative familiäre Erfahrungen durch ihre alkoholkranke Mutter (der Vater war früh verstorben); der alleinerziehende Vater Talithas hat ebenfalls Alkoholprobleme, aber eine erstaunlich ordentliche Wohnung. Felix möchte nicht mehr in die Schule gehen, weil er, wie sich herausstellt (noch ein Fall für eine Vertrauenslehrerin), von einer Lehrerin verbal gemobbt wird (dieses Problem wird durch Versetzung und Krankschreibung der Lehrerin gelöst, die bei einem schuldhaften Verkehrsunfall ihren Sohn in Felix' Alter verloren hat). Ein feiner Humor durchzieht die Überschriften der 27 Abschnitte; oft sind es wissenschaftliche Tiernamen, z.B. „Gorilla gorilla: Silberrücken“, eine Anspielung auf Marias nötiges Auftreten vor dem Leistungskurs.
Auch das macht dieser Roman deutlich: Mobbing ist eine Form der Gewalt, es hat viele Merkmale gemeinsam mit anderen Formen der Gewalt, z.B. das zwiespältige Verhältnis zwischen Täter oder Täterin und Opfer, das sogar zum Rollentausch führen kann; oder die Schuldgefühle des Opfers, die eine Loslösung verhindern.
Ursula Pickener weiß, wovon sie schreibt; sie hat lange Zeit als Lehrerin und Beraterin in einem Schulzentrum gearbeitet.
Den Roman empfehle ich, auch und gerade älteren Schüler*innen, weil er ernste Themen in unterhaltsamer Form auf überzeugende Weise darbietet.
Ursula Pickener: Utopia war gestern. Kriminalroman. Fehnland, Rhauderfehn 2019, 312 Seiten, 12 EUR.
Autor dieser Besprechung: (C) Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Titelbild des Verlages.
Letzte Kommentare