Zu "Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung": Insidern war es wohl bekannt, ich wusste es nicht: Der große Verleger Arnulf Conradi (der u.a. den Berlin-Verlag gegründet hat) ist seit seiner Jugend ein engagierter Vogelbeobachter, gehört also zu der liebenswerten Minderheit der "Birdwatcher". Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das die Kunst (!) der Vogelbeobachtung mit Zen-Meditationen verbindet.
Da ich selber mich seit dem Alter von 14 Jahren in der Kunst der Vogelbeobachtung übe, liegt mir dieses Buch besonders am Herzen - kurz gesagt: Dieses Buch hätte ich am liebsten selbst geschrieben! (Das ist das höchste Kompliment, das ich zu vergeben habe.) Ganz und gar ernst ist das natürlich nicht gemeint - denn wenn ich es hätte schreiben können, dann hätte ich es auch geschrieben. Meine Lernzeit in der Vogelkunde - die auch die scientia amabilis genannt wird, die liebenswerte Forschungsaufgabe - fand sogar in derselben Gegend statt wie die des Autors, nämlich an der Ostsee in und bei Kiel.
Conradi schreibt nicht nur sachlich-nüchtern, wie in der Wissenschaft üblich, sondern oft anschaulich-bildhaft, sein Text ist angenehm lesbar und regt die Fantasie an. Die eigene Begeisterung schlägt immer wieder durch. Die Schilderung seiner ersten Begegnung mit dem Albatros während einer Kreuzfahrt in der Antarktis wird mir in Erinnerung bleiben: „Der Albatros glitt aus der Himmelsrichtung, in der wir South Georgia hinter uns gelassen hatten ... auf das Schiff zu – die langen, schmalen Schwingen regungslos, in etwa fünf Metern Höhe über dem Meer. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet ... Er hatte keine Mühe, das Schiff einzuholen, obwohl er seinen Flug mit keinem Flügelschlag unterstützte. Er schwebte ruhig herein, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben … Ich kannte das Dahinschweben der Möwen an der Ostseeküste, wo ich aufgewachsen bin … Ich kannte das Kreisen der Seeadler am hohen blauen Himmel über der Uckermark … Der Albatros aber kam auf mich zugeschwebt, als trüge er eine Botschaft aus dem Herzen der Natur“ (S. 9 ff., hier stark verkürzt). Dabei stand der Beobachter einsam am Heck, denn es gab auf dem ganzen Schiff keinen Menschen mit entsprechend intensivem Interesse.
Laut Conradi gibt es zwei Typen von Vogelbeobachter*innen: Die einen, die "Traveler", reisen viel und versuchen möglichst viele der rund 10.000 Vogelarten, die es auf und über der Erde gibt, im Freiland kennenzulernen, zu beobachten und in ihre "lifelist", die Liste der Erstbeobachtungen, einzutragen. Die anderen, die "Patchworker", bleiben meistens zu Hause und gehen möglichst täglich denselben Weg, ihren "Patch" (Flecken), um auch die feinsten Veränderungen wahrzunehmen und beim Stillstehen (ganz wichtig!) bestimmte Vögel oder einen einzelnen in Ruhe zu beobachten. Dazwischen gibt es natürlich beliebige Mischungen der beiden Typen. Der Verfasser hat, wenn er nicht gerade verreist ist, zwei Patches: einen im Grunewald und einen in der Uckermark, wo er sich heute einen naturschönen Zweitwohnsitz geschaffen hat.
Sieben der zehn Kapitel orientieren sich an einem Lebensraum (Biotop). Abgesehen von der "exotischen" Antarktis sind es die stillen Binnengewässer (Seen) am Beispiel der Feldberger Seenplatte in der Uckermark und die Fließgewässer am Beispiel der Peene; für Inseln dient Helgoland, für die Nordsee Sylt, für die Stadt der Grunewald und für die Bergwelt Balderschwang als Beispiel. Zwei weitere Kapitel sind dem Zen gewidmet; u.a. werden Haikus von Matsuo Bashō (1644-1694) vorgestellt. Dann gibt es noch einen Abschnitt über die "Musik" der Vögel, über Gesänge und Rufe; natürlicherweise mit der Nachtigall im Mittelpunkt; und ein Schlusskapitel über das "Glück des Anfangs" (bei der Kunst der Vogelbeobachtung).
Wie ist nun die Verbindung zwischen Zen(-Meditation) und Vogelbeobachtung? Manche Vogelbeobachtungen gleichen dem Erlebnis einer gelungenen Meditation und rufen unvergessliche Glücksgefühle hervor. Der Rückseitentext meiner Ausgabe bringt es auf den Punkt: "Das Erlebnis, den Vogel in seiner Schönheit und Lebendigkeit wahrzunehmen, ist wie eine Senkrechte in der Zeit. In dem Moment gibt es nichts anderes, du bist ganz im Hier und Jetzt". "Die Haiku Bashös", schreibt Conradi, "sind ein reiner Ausdruck des Erlebens der Natur, und wenn man sie als plötzliche Offenbarung liest, versteht man zugleich ihre Tiefe. Wie in der Zen-Meditation schafft man zunächst eine Leere, um dann eine blitzartige Erkenntnis einzulassen ... (S. 90)" Vogelbeobachtungen schulen die (unbefangene, wertfreie) Wahrnehmung. Meditation und Vogelbeobachtung (oder auch andere Naturbeobachtungen) bedürfen einer Vorbereitung durch lange und regelmäßige Übung, durch die Seele und Geist für die blitzartige Erkenntnis oder Wahrnehmung geöffnet werden.
Das Buch ist von einem besonderen Zauber, für den Lesenden, der sich auf die (Wort-)Bilder einlässt.
Nachbemerkung: Eine längere Besprechung ist in der Zeitschrift "Die Drei" (Heft 12/2020) erschienen. Hier kann sie zur Zeit abgerufen werden (etwas nach unten rollen, es ist die zweite Besprechung.)
Arnulf Conradi: Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung. Verlag Antje Kunstmann, München 2019, 240 Seiten, 20,00 EUR.. S. auch Netzseite des Verlages.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover, Bild: Titelgestaltung des Verlages nach einem Bild von John James Audubon (1785-1851), das Tordalke darstellt.
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